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Staatsbetriebe zu verkaufen!

Das türkische Parlament verabschiedet nach langen Debatten ein Privatisierungsgesetz / Die Umsetzung ist fraglich  ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren

„Die Türkei war der letzte sozialistische Staat in der Region. Endlich haben wir den Sozialismus zu Fall gebracht“, frohlockte die türkische Ministerpräsidentin Tansu Çiller. In der Nacht zu gestern hat das türkische Parlament ein Privatisierungsgesetz verabschiedet – nach zähen und langwierigen Beratungen. Elf Jahre lang hatten fünf Regierungen vergeblich versucht, die große Zahl staatlicher Betriebe in der Türkei zu privatisieren. Für Çiller nun ist das Privatisierungsgesetz Kernstück des Stabilisierungsprogramms, das die Regierungskoalition nach Drängen des Internationalen Währungsfonds am 5. April verabschiedet hatte.

Die türkische Wirtschaft stand im Frühjahr vor dem Kollaps. Die Einnahmen des Staates reichten schon nicht mehr für Zins und Tilgung der Haushaltsschulden. Ein Devisenkurs, der künstlich unter der Inflationsrate gehalten wurde und zum Anwachsen des Außenhandelsdefizites beitrug, verschärfte die Lage. „Der Währungsfonds, die Weltbank, ja die ganze Welt erwartet von uns ein Wunder“, kommentierte Ministerpräsidentin Çiller damals und versprach, das „Wunder“ zu realisieren. Die türkische Lira wurde abgewertet, zweistellige Preisaufschläge folgten. Das Motto hieß: „Schnallt den Gürtel enger“. Mit dem Versprechen, die Inflation zu bändigen, köderte Çiller die kleinen Leute.

„Der 5. April ist bankrott“, schlagzeilte jüngst jedoch das türkische Massenblatt Hürriyet. Im zweiten Halbjahr 1994 sollte die Jahresinflationsrate von damals 73 Prozent auf 20 Prozent gesenkt werden. Aber allein im Oktober sind die Großhandelspreise um 9,5 Prozent gestiegen, die Jahresinflationsrate lag über 130 Prozent. Zwar kann Çiller mit einer verbesserten Außenhandels-, Leistungs- und Devisenbilanz aufwarten. Doch wesentliche Versprechungen sind nicht eingelöst. Mehrere staatliche Betriebe sollten bereits vor Jahresende privatisiert oder stillgelegt werden. Das jetzt verabschiedete Gesetz schließt mehrere öffentliche Betriebe von der Privatisierung aus.

Trotz des neuen Gesetzes werden politische Widerstände das Tempo der Privatisierung vermutlich erheblich verlangsamen. So haben die Massenproteste der Arbeiter in dem Stahlwerk Karabük bereits bewirkt, das in der Regierung niemand mehr von einer Stillegung des defizitären Staatsunternehmens redet.

Çiller hatte ebenfalls versprochen, der Subventionierung der Landwirtschaft ein Ende zu setzen und die staatlichen Aufkaufpreise für Getreide, die über Weltmarktniveau liegen, zu senken. Doch gerade in den Dörfern ist die Wählerbasis von Çillers „Partei des rechten Weges“. Darum änderte sich nichts an der populistischen Agrarpolitik, die seit Jahrzehnten betrieben wird. So sind von dem umfassend geplanten Sanierungsprogramm für die türkische Volkswirtschaft nur Kürzungen bei den direkten öffentlichen Ausgaben übriggeblieben, wobei selbst die Sätze für das Essen in den staatlichen Krankenhäusern zusammengestrichen wurden. Eingefroren wurden außerdem die Löhne im öffentlichen Dienst. Nichtsdestotrotz ist das Ziel, das Staatsbudget zu sanieren, lange nicht erreicht, da Erlöse aus der Privatisierung ausblieben. Nach Ansicht des Ökonomen Sungur Savran ist der Handlungsspielraum der Regierung zusätzlich durch den Krieg in den kurdischen Regionen eingeschränkt. Nach Schätzungen eines Ministers kostet der dreckige Krieg jährlich sieben Milliarden US-Dollar.

Doch der Krieg in Kurdistan hat auch politische Folgen, die eine Umstrukturierung der türkischen Wirtschaft nach kapitalistischer Rationalität verhindern. Durch unpopuläre Sanierungsmaßnahmen will die Regierung im Westen nicht eine zweite Front gegen die Hunderttausenden Arbeiter in den staatlichen Betrieben eröffnen.

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