piwik no script img

■ Sind die bosnischen Muslime die Palästinenser Europas?Staatenlos

„Entschuldigen Sie bitte, daß wir gewonnen haben!“, sagte in den 80er Jahren Rafi Horowitz, Sprecher der israelischen Armee, wenn er nach den Palästinenserlagern im Libanon gefragt wurde. Er wollte damit sagen, daß die palästinensischen Flüchtlinge nicht das Problem Israels seien.

Dem Unglück der Muslime Bosnien-Herzegowinas wird mit übertriebener Heuchelei begegnet. Ihr Schicksal ist weder so unverständlich noch so außergewöhnlich wie die internationalen Friedensmakler glauben machen wollen. Mehrere Völker, die fast verschwunden wären, irren durch die Welt. Kurden, Armenier, südamerikanische Indianer, Juden, Palästinenser, Bosniaken wurden in einem bestimmten Zeitpunkt ihrer Geschichte Opfer eines kollektiven Massakers und zur Diaspora gezwungen. Und genau dann wurden sie sich ihrer Existenz bewußt und versuchten, sich mit dem einzigen Instrument auszustatten, das ihr Überleben garantierte: einem nationalen Staat. Ohne diesen dummen und heute so aus der Mode gekommenen Apparat gibt es kein Überleben.

Die Muslime Bosnien-Herzegowinas bezahlen teuer für ihre Irrtümer in der Einschätzung der Situation. Als die Nationalismen ausbrachen, wiederholten sie immer wieder mit Stolz, daß sie ihrerseits keinen Sinn in der Überbetonung der nationalen Identität sähen, daß sie Muslime, Jugoslawen, Bosniaken, Kroaten moslemischer Religion oder auch islamisierte Serben sein könnten. All das sei unwichtig. Während des Krieges in Kroatien meinte der muslimische Präsident Bosnien-Herzegowinas, Alija Izetbegović, gegenüber jedem, der es nur hören wollte, daß dieser Konflikt zwischen Serben und Kroaten sein Land nicht betreffe. Die Kroaten werden ihm dies nie verzeihen. Er hatte nicht gemerkt, daß an der Schlacht um Vukovar (im Osten Kroatiens, A.d.R.) mehr Kroaten aus der Herzegowina als aus Kroatien selbst teilnahmen. Und da er auch nicht gemerkt hatte, daß die Serben und die Kroaten schon lange für nationale Staaten optiert hatten, in denen die Angehörigen anderer Ethnien keinen Platz hatten, konnte er spät in der Nacht, als die Barrikaden in Ilidza, einem serbischen Vorort von Sarajevo, bereits standen und die Sockel für die Kanonen rund um die Stadt schon betoniert waren, weiterhin die alten Klischees vom Zusammenleben der drei konstitutiven Völker und vom Geist eines multinationalen Sarajevo wiederkäuen, das mit den Nationalismen nichts gemein habe. Während damals die Serben von Banja Luka (wichtigste Stadt im Nordwesten Bosniens, unter serbischer Kontrolle, A.d.R.) bereits ihre Waffen polierten und die Kroaten oberhalb von Tomislavgrad Schützengräben aushoben, waren die Muslime überzeugt, daß ihr enthusiastischer Einsatz für die Koexistenz und ihr so begeistert behauptetes Unvermögen, auch nur den geringsten ethnischen Haß zu spüren, letztlich von der internationalen Gemeinschaft honoriert würden.

Die Muslime erfuhren dann auf eine sehr brutale Art, daß sie keinen eigenen nationalen Staat hatten. Als die Serben und die Kroaten ihre nationalen Farben zur Schau trugen und die Kanonen zu donnern begannen, merkten die Muslime, daß sie überhaupt keinen symbolischen Kern hatten, um den sie ihre Verteidigung hätten organisieren können, daß die Nationen ohne nationalen Staat nur literarische Fiktionen sind und daß eine Armee ohne nationalistische Ideologie nicht weiß, gegen wen sie kämpfen soll. In Sarajevo sprach man von Bosnien-Herzegowina noch immer als von einem Staat der Bürger. Man erforschte ausgiebig die Geschichte, um ein Wappen zu finden, das für alle drei konstitutiven Völker akzeptabel sein könnte, und Farben, an denen niemand Anstoß nehmen müßte. Und dabei betonte man immer, daß es irgendwo außerhalb der Hauptstadt eine bosnische Armee gebe, die für einen solchen Staat kämpfe. An den Fronten sah das von Anfang an ganz anders aus. Die Serben kämpften für Serbien und gegen die Muslime und Kroaten, die Kroaten für Kroatien und gegen die Serben – und in der Herzegowina lieferten sich auch Kroaten und Muslime Gefechte. Die einen wollten Kroatien, die andern Serbien. Und die Muslime?

In Mostar (Hauptstadt des am 4.Juli 1992 ausgerufenen kroatischen Staates Herceg-Bosna, A.d.R.) beispielsweise haben sie schnell gemerkt, daß sich Koexistenz auf Tod reimt. Als die Truppen des „Kroatischen Verteidigungsrates“ (Verbände der herzegowinischen Kroaten, A.d.R.) nach der Befreiung der Stadt die Fahnen Kroatiens hißten, ordnete der „muslimische“ Kommandant der Armee Bosnien-Herzegowinas, Arif Pasalić, an, sowohl gegenüber den Positionen der Serben wie auch der theoretisch verbündeten Kroaten Sandsäcke aufzuschichten. Er erklärte allen, die es hören wollten, daß ihm das Lächeln, mit dem sich die Serben dafür entschuldigt hätten, den Krieg gegen Kroatien gewonnen zu haben, eine Lektion gewesen sei. Die Kroaten werden sich für ihre Siege entschuldigen, ohne zu lächeln, weil man ihnen die Zähne eingeschlagen hat. Immer mehr Muslime sind nicht mehr von Güte und Liebe gegenüber allen anderen Völkern beseelt, und sie erwecken nicht mehr den Eindruck, als kämen sie gerade von einer Zeremonie zum Ruhme Titos und der „Brüderlichkeit und Einheit der Völker Jugoslawiens“. Auf den Wegen Zentralbosniens erzählt man sich Geschichten über die Sutjeska-Brigade (benannt nach einem Ort, an dem im Zweiten Weltkrieg Titos Partisanen den nationalsozialistischen Besatzungskräften eine Schlacht lieferten, A.d.R.), die sich ausschließlich aus Muslimen zusammensetzt, deren Familien massakriert und deren Häuser niedergebrannt wurden und die nun dasselbe machen. Es ist mir nicht gelungen, diese Brigade aufzutreiben. Aber man hat mir ihre Heldentaten so glühend beschrieben, daß ich den Eindruck habe, es gibt sie nicht und es handelt sich bloß um eine dieser Mythen, die im Land umherschwirren. Aber die Muslime in Bosnien-Herzegowina klammern sich heute an Mythen. Unaufhörlich beteuern sie, daß sie keine Palästinenser seien, daß man sie aus Jablanica und Konjic (zwei kleine Ortschaften südlich von Sarajevo) nie verjagen werde und daß Mostar und Travnik ihnen gehören würden. Natürlich träumen sie. Sie haben nicht die Waffen, um überhaupt etwas zu fordern. Sie können zwar das Mittel eines erpresserischen Hungerstreiks einsetzen, doch endet das damit, daß sie erneut um humanitäre Hilfe bitten. Enes, ein Geschichtsstudent in Travnik, der sein Studium nach der Zerstörung der Fakultät in Sarajevo unterbrechen mußte, machte sich über das Schicksal der Muslime keine großen Hoffnungen. Aber schließlich änderte er seine Meinung: „Nein, die Muslime sind keine Palästinenser. Aber sie müssen von den Palästinensern den Haß lernen.“

Der Somalier oder der Sudanese, der vor einiger Zeit ein Flugzeug der Lufthansa entführt hat, hat für die Muslime vielleicht mehr erreicht als all die humanitäre Hilfe. Die Presseagenturen behaupteten zunächst, es handele sich um einen Bosnier, und die BBC beeilte sich, eine neue Theorie über eine neue Welle des Terrorismus zu entwickeln, die Europa und die Welt heimsuchen werde. Niemand verlangte nach Erklärungen, weshalb denn ein Bosnier ein Flugzeug entführen sollte. Es schien offensichtlich: Die bosnischen Muslime haben allen Grund, die ganze Welt zu hassen. Ervin Hladnik-Milharcić

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen