: Spuren eines Onkels
Ein Bücherkauf mit ungeahnten Folgen ■ Von Gabriele Goettle
Vor etwa zwei Wochen fiel mir in der Zeitung folgende Annonce auf:
DAS LEBEN DES MENSCHEN, 5 Bände, von Dr. Kahn, 1929, Franckh'sche Verlagsbuchhandlung Stuttgart, mit vielen Bildern und Tafeln, sw/farbig, je Band 15DM. Tel: 0351/......, Dresden
Spontan wählte ich die Nummer, und es meldete sich ein Herr A., hörbar erfreut über mein Interesse. Sein Onkel sei gestorben, erzählte er, nun wisse er nicht, wohin mit den vielen Büchern. Der Onkel, Jahrgang 1908, habe vor allem Fachliteratur hinterlassen aus dem Bereich Werkzeugmaschinenbau und eine Menge Wörterbücher und Fachwörterbücher, englisch und französisch. Er sei Maschinenbauingenieur gewesen und Fachdolmetscher. Dann gebe es noch ein paar Klassiker-Ausgaben und gehobene Belletristik vor allem aus DDR-Verlagen. Daneben, so zählte Herr A. weiter auf, seien ihm noch viele kleine Bücher, Heftchen und Broschüren aufgefallen, teils aus den zwanziger, dreißiger, vierziger Jahren, teils aus DDR-Zeiten, da besonders Hefte vom Hygienemuseum Dresden, ob ich vielleicht auch dafür Verwendung hätte. Während ich noch überlegte, schlug er mir vor, alles gut verpackt zu schicken, quasi zur Ansicht, was mir nicht gefalle, könne ich ja dann zurücksenden. Über den Preis würde man sich schon irgendwie einigen. Ich war ein wenig verwundert über so viel Vertrauen.
Ein paar Tage später kam das Paket, solide verschnürt, mit einem schwarzweiß gedrehten Bindfaden noch aus VEB-Produktion. Die Bücher selbst waren einzeln in Zellstoff verpackt und an den Kartonecken zusätzlich mit Schaumstoff gepolstert. Ich breitete alles auf dem Schreibtisch aus, um es erst einmal nach dem Erscheinungsjahr zu ordnen. Von 1909 bis 1989 reichte das Spektrum. Und nun machte ich mich ans Blättern, zuerst im fünfbändigen Werk „Das Leben des Menschen“.
Es ist reich bebildert mit Graphiken, Fotografien und Zeichnungen, die das Beschriebene oft durch merkwürdige Darstellungen veranschaulichen. Da schwebt beispielsweise ein Fesselballon mit fünfköpfiger Besatzung hoch über dem Rhein. Der Korb ist in ein menschliches Becken eingehängt, das nach oben hin von den Schnüren der Ballonumhüllung gehalten wird. Diese Zeichnung soll vor Augen führen, von welch mächtiger Stärke die menschlichen Bindegewebsbänder des Beckens sind. Ein anderes Bild zeigt zwei Herren in dunklen Anzügen, die, ein menschliches Herz haltend, neben einer riesigen Dampflokomotive stehen. Das Herz ist mittels Schläuchen an die Lok angeschlossen. Es soll demonstriert werden, daß man „durch ein Herz-Ader- Präparat den Dampf einer Lokomotive leiten kann (15 Atmosphären), ohne daß es zerplatzt“.
Auch in den Texten finde ich seltsame Abschweifungen und Einfälle. In einer Abhandlung über „Die Phantastik der keimesgeschichtlichen Tatsachen“ steht folgendes zu lesen:
„Von der Amöbe zum Weltherrscher. Durch einen Zottenkanal treibt eine Kugel hin. Ein Geißelinfusor kommt wie ein Aal durch das Gestrüpp geschwommen, stürzt sich auf die Kugel, bohrt sich in sie ein. Ein Tiefenidyll, das wir zwischen Tang und Plankton belauschen? Überfall eines Infusors auf eine Amöbe? 40 JAHRE SPÄTER. Da steht die Amöbe als Mann da mit einem Lorbeerkranz auf der Stirn (...)“(1. Band)
Band fünf hat hinten eine eingearbeitete Falttasche, in der allerhand schöne Überraschungen stecken, zum Beispiel ein Bilderbogen zum Stammbaum des Menschen (s/w), wo alles schnurstracks auf die Hervorbringung des deutschen Kulturmenschen (mit Goethes Zügen) hineilt. Den gegenteiligen Beweis hatte man noch vor sich. Des weiteren gibt es einen „prächtigen Wandschmuck für Schule und Haus“, ein großes farbiges Plakat: „Der Mensch als Industriepalast“. Gezeigt wird das Innere von Kopf und Torso, in dem an Stelle der Organe, Adern und Muskeln ein System von Röhren, Schächten, Büroetagen, Fabrikationshallen und Pumpstationen zu sehen ist. Dazu gibt es eine Pappbrille mit rotem und blauem Plastikglas, durch die sich das Plakat nach kurzer Zeit dreidimensional und metallisch schimmernd betrachten läßt. Da nehme ich die Analogie zur herrschenden Hierarchie gern in Kauf, den „Willen als Direktorium“, die „Vernunft als Aufsichtsrat“, den „Verstand als Fabrikleiter“, zumal unten ohnehin, außer in Leber und Knochenmarkproduktion, kaum Proletariat zu finden ist. Alles arbeitet vollautomatisch. Gepaart mit Technikbegeisterung, zieht sich durch alle fünf Bände eine große Bewunderung für die Natur, ohne daß, wie es heute der Fall ist, sofort von Bemächtigung, Beherrschung und industrieller Ausbeutung die Rede ist.
Nun zu den anderen Broschüren und Büchern:
Das älteste Büchlein ist eine „Erste Hilfe“ von 1909 aus der Reihe „Wissenschaft für Jedermann“. Neben den üblichen Ratschlägen und einigen ungelenken Abbildungen enthält es Beschreibungen mehrerer interessanter Vergiftungen, so mit Opium, Mutterkorn, Bilsenkraut, Morphium, Arsen, durch Biß von Giftschlangen und tollen Hunden.
Dann „Zehn Minuten Turnen“ (1912), „Eine Handreichung für das tägliche Turnen in Knaben- und Mädchenschulen, wie im Hause“. Erlernt werden soll „Atmung und Haltung!“. Im Anhang finden sich zwei Leporellos mit bebilderten Darstellungen der einzelnen Übungen. Früherer Besitzer des Büchleins war, vor dem Onkel, ein Herr „Rylke Herren-Damen- Friseur, Kleinnaundorf Dresden 28, seit 1913“, so der Stempel.
In der „Entdeckung des Leibes“ (1924) geht es wiederum um verkrampfungslösende Entspannungsübungen, um richtige Atmung und Ernährung.
„Der nervöse Mensch“ (1927) befaßt sich mit dem „Zweckcharakter organisch scheinender Symptome verschiedener Krankheiten“ und mit den Kranken, die sich auf diese Weise „vor den Kränkungen der Außenwelt schützen“.
„In zwei Stunden nicht mehr nervös!“ verspricht der Autor des nächsten Büchleins (1928), aber die Lektüre scheint dem Onkel nicht viel geholfen zu haben, er befolgte den Befehl auf Seite 54: „Studieren Sie den Inseratenanhang!“ Von den vielen angekreuzten Titeln haben zwei den Weg bis
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zu mir gefunden: „Nie mehr schüchtern. Das Brevier der Selbstbefreiung von Angst- und Furchtzuständen“. Darin wird dem Schüchternen das Wesen der Schüchternheit erklärt, untergliedert in „Ursachen, Folgen und Erscheinungen“, danach werden Ratschläge zur Besserung erteilt wie: „Fasse einen Entschluß! Meide Zweifel! Meide fremden Zwang! Lasse Dich nicht beirren! Vom Wert des Vorbildes“ usf. Dem Leser wird versprochen, daß er nach der Lektüre des Buches geheilt sei „vom Elend der Schüchternheit und anderer nervöser Erkrankungen“.
Das andere Büchlein trägt den Titel „Geheime Liebesmächte“. Es bezeichnet sich als „Lehrbuch der Geheimnisse des Glücks in der Liebe“ und durfte nur an Personen abgegeben werden, die „ausdrücklich versichern, daß sie das 18. Lebensjahr überschritten haben“. Von der „Suggestion im Dienste der Liebe“ bis hin zum „Liebestrank“ werden dem Ratsuchenden allerhand Eroberungstaktiken vorgeschlagen.
Es geht weiter mit „24 Stunden richtig leben“ (o.J.). „Stehst Du kleinmütig vor den Aufgaben, die Dir das Leben dieser Zeit stellt?“ wird besorgt gefragt. Die Empfehlungen zur Beseitigung dieser Zaghaftigkeit scheinen ein wenig abzuweichen vom üblichen Maßnahmenkatalog. Empfohlen wird „einsames Leben“ und das „Besteigen der Berge“, denn nur so lasse sich zuverlässig „der Anschluß an den Pulsschlag dieser Zeit“ erreichen. Daß der Hilfesuchende sein Zaudern nicht auf die leichte Schulter nehme, dafür sorgten Sätze wie „Wenn Du es nicht schaffst, bleibt Dir nur übrig abzuwarten, bis Dich die da wach sind als Objekt benutzen!“
„Auch Lungenraucher?“ (o.J.) Rauch, so der Herausgeber in seiner Vorbemerkung, umnebele die Sinne, schwäche Mannes- und Sinneskraft, Willensleistung und geistige Frische. Besonders aber verursache das Lungenrauchen Krankheitssymptome, die anderen, und redlich erworbenen, täuschend ähneln, nämlich zum Beispiel dem, „was man im Felde als Schützengrabenkatarrh bezeichnete“. Unzählige Raucher, so der Verfasser, hätten auf ihren puren Raucherkatarrh hin Kriegsversehrtenrente beantragt und erhalten. Zigaretten werden als die „Sargnägel der Nation“ verabscheut, Raucher als „willensschwache Süchtige, geprägt von männlicher Unreife“. Der Onkel, offensichtlich zum Zeitpunkt der Lektüre Nichtraucher, hat triumphierend die Folgen der Nikotinsucht dick unterstrichen und mit Ausrufezeichen versehen: „Spitzenleistungen des Nikotins sind, neben ausgesprochener Geisteskrankheit und Tobsuchtsanfällen, Verbrechen, vor allem Sittlichkeitsverbrechen und Morde!“
Die Broschüre „Eine Reise durch den menschlichen Körper“ (o.J.) stammt wahrscheinlich aus den dreißiger Jahren und wurde von der Heilmittelfabrik Heumann, Nürnberg, als Werbe- und Bestellbüchlein unter die Leute gebracht. Die Reise durch den menschlichen Körper ist zugleich eine Stippvisite bei den Brennpunkten hochgradiger Krankheitsanfälligkeit und führt ohne Umwege direkt zum rettenden Heumann's Heilmittel. Die Faszination des Büchleins liegt in der wunderbaren Bebilderung. „Unsere kleine Reisegesellschaft“, bestehend aus einem weißhaarigen spitzbärtigen Arzt im weißen Kittel (dem Führer) und einem Paar im eleganten Reisedress, bricht zu seiner Exkursion durchs Körperinnere eines älteren Mannes auf. Und schon steht die Gruppe im aufgeschnittenen Magen, umtost von brausendem Magensaft. Der Reiseleiter beschreibt die Wunder und Wirkungsweise der Magennatur, deutet in die Schleimhautfalten und warnt vor Schwächung und Erkrankung des Organs. Auf der Seite daneben wird dann ein probates Heilmittel vorgeschlagen und mit Dankesschreiben unterlegt: Nervogastrol.
Die Reisegruppe steigt mit Leitern im Leberlappen umher, wandert durch den Darm, bewundert die Hämorrhoidalgewächse, wirft einen Blick durch den Darmausgang ins Freie und setzt ihren Weg fort. Unter diskreter Umgehung der Geschlechtswerkzeuge und Drüsen geht es durch Muskelfasern, im Ruderboot durch Aorta und Herz, durch die Niere. Man gönnt sich einen Abstecher zur Krampfader, offenem Beingeschwür, in einen rheumatischen Muskel. Abwechselnd helfen die beiden Herren der Dame ins Boot oder an Land. Staunend stehen beim Spaziergang durch die Haut beide Herren vor einer Anhäufung kugeliger Fettzellen, während die Dame vor Bewunderung die Hände zusammenschlägt angesichts einer sich windenden fadenförmigen Schweißdrüse. Bei der Weiterfahrt durch verkalkte Arterien müssen die Reisenden vor den Sedimentablagerungen die Köpfe einziehen. Im Boot stehend, nähern sie sich dem „Regierungspalast des Körpers“, dem Gehirn. Bei der Besichtigung des Schmerzzentrums steht ihnen ein glücklicher Zufall zur Seite, und sie werden Augenzeugen eines schweren Migräneanfalls: „Eigenartige Zuckungen werden da plötzlich in den Hirnhaut-Blutgefäßen, die in der Schläfengegend liegen, sichtbar.“ Das Touristenglück verläßt unsere kleine Reisegruppe auch nicht beim Rundgang durch die Lunge. Beim Betreten eines Lungenbläschens ereignet sich ein Asthmaanfall: „Ein vernehmliches Gepfeife und Gefauche, das von dem raschen Luftdurchtritt durch die verengten Luftröhrenäste herrührt, leitet ihn ein. Dann krampft sich plötzlich auch unsere Luftkammer zusammen.“ In der Hocke wartet man das Ende des Anfalls ab, der enorm hätte verkürzt werden können, durch Verabreichung von Heumann's Asthma Tropfen an den Patienten.
Auf Seite 37 schlägt man allmählich den Heimweg ein. Der ist strapaziös und führt steil aufwärts. In den Bronchien herrscht gefährliche Glätte: „Wir bemerken, daß die beiden großen Nebenstraßen sehr verschleimt sind. Auf der rechten Straße wären wir vielleicht gar nicht vorwärtsgekommen, denn sie ist von einem Schleimpfropfen fast verstopft.“ Eile tut not, ein Luftholen und Aushusten könnte unsere Reisegruppe davonreißen. Die Dame steigt als erste zur Luftröhre hinauf, ihre hohen Absätze geben ihr im Bronchialschleim sicheren Halt, während die Herren Mühe haben, sich auf den Beinen zu halten. Flugs passieren alle den Kehlkopf und treten erleichert auf die Zunge hinaus, wo es zwar schneidend kalt, aber dafür nicht mehr so gefährlich ist. Schnell wirft man noch einen Blick auf Zähne, Zäpfchen, Mandeln und Gaumen, schaudert vor den Millionen hereinflutender Bakterien, „die sich in kurzer Zeit zu Milliarden und Myriaden vermehren“ – wogegen übrigens Thymomalt-Pastillen einzunehmen sind –, und verläßt dann das Exkursionsgebiet. „Kaum haben wir den Körper unseres Gastgebers verlassen, da braust die Hustenexplosion über uns hinweg. Gerettet!“
„Stimmgymnastik auf Grund des Rückdruck-Alphabets“ (1936) lautet der nächste Titel. Hier übte der Onkel wohl den Unterton „und sämtliche deklamatorischen Ausdrucksformen, vom Pathetischen bis zum Dramatischen“.
1939, der Onkel ist knapp über Dreißig, erscheinen die „Elexiere des Lebens“, ein Werk über das schicksalhafte Zusammenspiel von Hormonen, Vitaminen, Charakter und Volksgesundheit. Um all das in harmonische Übereinstimmung zu bekommen, soll „zweckmäßige Ernährung und Leib-seelische Ertüchtigung durch Abhärtung“ praktiziert werden.
Wenig später hat sich der Onkel, augenscheinlich kränkelnd, eine ULVIR-Höhensonne bei der Firma Pusch & Co. in der Horst- Wessel-Straße 6 in Zittau bestellt. Er entschied sich für das preiswerteste der drei angebotenen Modelle. Für R.-M. 68.-, die Spezialausführung, elfenbeinfarben emailliert, Augenschutz und eine Flasche Putzwasser „Reflektorglanz“, ein Meter Zuleitungsschnur. An den Rand des Bestelldurchschlags hatte der Onkel mit akribischer Schrift vermerkt: „Modell mit auswechselbarem Widerstand“.
Das letzte Buch aus der Zeit des Nationalsozialismus ist von 1942 und trägt den Titel „Hygiene des Alltags. Von unseren Lebensgewohnheiten“. Im Vorwort entschuldigt sich der Verfasser dafür, daß sein Werk nicht auf Kriegsniveau ist. Erst nach dem Sieg, so versichert er, werde sich die „wahre Hygiene des Alltags“ sofort treiben lassen. Bis dahin gelte es, die Gesundheit nach Kräften zu fördern, denn: „,Gesundheit ist zivile Wehrpflicht!‘ Diese Parole gab der Reichsgesundheitsminister aus.“
Das nächste Büchlein, „Gesundheitsgefahren und Unfälle im Haus“ (1949), ist herausgegeben im Verlag des Deutschen Hygiene- Museums GmbH Dresden. Es gibt Winke und Ratschläge, wie der Bürger mit den beim „großen Unfall“ desolat gewordenen Wohnhäusern, Strom-, Gas- und Wasserleitungen umzugehen hat, um weiteren Schaden zu verhüten. Von altvertrauten Abhärtungspraktiken wird ausdrücklich abgeraten, weil man „mit dem Öffnen des Fensters in den heute vielfach überbelegten Wohn- und Schlafzimmern gar nicht allen Betroffenen in gleicher Weise gerecht werden kann und Rücksicht nehmen muß“.
Es folgen sechs weitere Broschüren des Hygiene-Museums, nun herausgegeben vom VEB Verlag Volk und Gesundheit, Berlin:
„Wem schaden Alkohol, Tabak und Kaffee?“ (1954)
„Kranke Zähne – kranker Körper“ (1954)
„Das Bronchialasthma“ (1956). Darin zwei mit Rotstift angestrichene vergilbte Zeitungsausschnitte von 1973. Einer bezieht sich auf die Häufigkeit der chronischen Bronchitis, der andere auf die Lungenheilstätte Schloß Pulsnitz, resp. ihr Forschungsprojekt „chronische Bronchitis“.
„Das künstliche Gebiß und seine Pflege“ (1958)
„Keine Zeit mehr für die Freizeit?“ (1966). Darin mit Bleistift die Randbemerkung des Onkels: „Tempo! Puls-Kreislauf-Atmung verlangsamen!“
„Die Darmträgheit“ (1967)
Das Büchlein „Kost für Zuckerkranke“ ist von 1969 und hat einen abwaschbaren Plasteeinband. (VEB Verlag Volk und Gesundheit). Eine „Diabetiker-Fibel“ (1972) vom Hirzel Verlag Leipzig enthält Kochrezepte und ausführliche Informationen für Zuckerkranke. Als letztes folgt ein Büchlein mit dem Titel „Bluthochdruck“ (o.J.), ein „Patientenratgeber, überreicht von Pharma Schwarz“ (BRD).
Diese an sich auf den ersten Blick harmlos und eher kurios erscheinende Lektüre verursacht in der Aufeinanderfolge zusehends Beklommenheit. Buch um Buch schält sich die Krankengeschichte des Onkels heraus. Und nicht nur seine, sondern die einer ganzen Epoche.
Der Onkel ist herangereift und mit ihm die industrielle Entwicklung und technischer Fortschritt. Es surrten die Treibriemen, die Zähnchen der Zahnräder griffen mit vollendeter Präzision ineinander, im Schmierfett des Kugellagers drehten sich die Kugeln reibungslos und unermüdlich im Kreise, die Nutznießer jedoch verlernten zunehmend, wie man atmet, sich bewegt und entspannt, zu einem Liebesleben findet, in der Geschäftswelt selbstsicher und kraftvoll auftritt. Verzweifelt ist die Suche nach „Innerer Ruhe in den Stürmen des Lebens“ (aus einem Büchlein der zwanziger Jahre). „Im Gesicht hat man das Gefühl maskenhafter Starre“ (dreißiger Jahre), und das Leiden am „inneren Widerspruch, der ein rein menschlicher ist“ (vierziger Jahre), scheint bis heute zu rumoren, rein innerlich.
Dazu, daß das ganz auf sich selbst gestellte Subjekt in diesen Fragen nicht sinnlos über Lösungen nachdenkt oder gar aus den gesellschaftlichen Verbindungen aussteigt, haben Heerscharen von Turn-, Gesundheits- und Hygienebüchlein ihr Teil getan. Generation um Generation wurde zum Wandern geschickt und ermahnt, tief durchzuatmen, und dabei immer: „Bauch rein und Brust raus!“ Aber nichts davon war natürlich als Alternative gedacht zur Maschinen- und Arbeitswelt, sondern als Instandhaltungsmaßnahme.
Merkwürdig, daß es klappte. Daß all die Störrischen, Widerstrebenden, Schüchternen, Unzulänglichen und Verzagten letztlich dann doch normgerecht funktionierten und mitsamt ihrem Potential an „innerem Widerstand“, sozusagen per Freiübung, in die Geschichte verschwanden.
In einem der Bücher aus den vierziger Jahren hatte der Onkel, offenbar nach der Lektüre hoffnungsfroh, folgendes Zitat aus dem „Faust“ angestrichen:
Ich fühle Mut, mich in die Welt zu
wagen –
Der Erde Weh, der Erde Glück zu tragen,
mit Stürmen mich
herumzuschlagen
und in des Schiffbruchs Knirschen
nicht zu zagen.“
Am nächsten Abend rief Herr A. aus Dresden an. Wir waren uns schnell einig. Er schlug vor: „Mit hundert Mark, für alles zusammen, würde ich zufrieden sein.“
Über den Onkel erfuhr ich noch folgendes: Er hat Ende der Zwanziger angefangen, Maschinenbau zu studieren, machte Mitte der Dreißiger eine Ausbildung als Fachdolmetscher, Anfang der Vierziger dann eine als Militärdolmetscher. 1942 rückte er ein und marschierte mit der Wehrmacht in den Süden Frankreichs ein. Später, als Kriegsgefangener, dolmetschte er auch im Internierungslager. Nach dem Krieg kehrte der Onkel nach Dresden zurück. Zehn Jahre soll er dort verlobt gewesen sein, bis die Hochzeit zustande kam. Die Tante war ein „Putzteufel“, fiel in dieser Eigenschaft von der Leiter und verstarb.
Der Onkel war angeblich klein und kugelrund. Ein Reisekader, und dennoch kein Genosse. Als er Ende Fünfzig war, wurde er zuckerkrank. Fast sein ganzes DDR- Arbeitsleben über war er der Auslandsvertreter und -korrespondent einer Kunstblumenfabrik, fuhr regelmäßig nach England, Frankreich und Belgien. Die Firmenkunden waren Beerdigungsunternehmen und Geschäfte für Bestattungszubehör (denn, so Herr A.: „In diesen Ländern kennt man das nicht, Grabschmuck aus frischen Blumen“, und er erzählt, wie die Arbeiterinnen den ganzen Tag Kreppapierstreifen auf Draht gewickelt haben, „die fertige Papierblume wurde dann noch mehrmals in Wachs getaucht“). Als die Kunstblumenfabrik geschlossen wurde, machte der Onkel auf seine alten Tage noch mal die Prüfung als Fachdolmetscher für Maschinenbau (Herr A.: „Er hat sich wohl geschämt, seine Zeugnisse aus der Nazizeit herzuzeigen“) und wechselte über zu einer volkseigenen Fabrik für hydraulische Hebebühnen. Er starb an schwerem Bluthochdruck, durch Herzversagen.
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