: Spuk im Kolleg
Das Schreckgespenst der Sodomie geht um. Erst kam Navid Kermani, um es lustvoll zu beschwören, dann Joachim Helfer, um es wieder auszutreiben. Ein Beitrag zur Debatte um die „Verschwulung der Welt“
VON ANDREAS KRASS
Juden, Christen und Muslime verbindet nicht nur der gemeinsame Ahnherr Abraham, sondern auch die wüste Geschichte von der Zerstörung Sodoms (Genesis 19,1-29; Sure 7,80-84). Gott legt die Stadt in Schutt und Asche, weil ihre Bewohner sich an den Gästen Lots, des Neffen Abrahams, vergehen wollen. Daher heißt, was heute Homosexualität genannt wird, in der christlichen Welt auch Sodomie (nach Sodom) und in der arabischen Welt auch lutiyya beziehungsweise liwat (nach Lot).
Vom Schreckgespenst der Sodomie handeln auch zwei Bücher, die für einige Aufregung in den deutschen Feuilletons gut sind: Joachim Helfers „Die Verschwulung der Welt“ (Suhrkamp 2006) und Navid Kermanis „Du sollst“ (Ammann 2005). Beide Autoren schreiben im kulturellen Spannungsfeld von Orient und Okzident: Kermani als deutsch-iranischer Literat, Helfer als deutscher Schriftsteller im Dialog mit dem libanesischen Dichter Rashid al-Daif. Beide, Kermani und Helfer, wurden vom Berliner Wissenschaftskolleg zu ihren Büchern inspiriert. Kermani war dort Longterm-Fellow und siedelt seine Erzählung in einem fiktiven Institut an, dessen reales Vorbild er kaum verhüllt. Helfer traf mit seinem libanesischen Kollegen Rashid al-Daif im Rahmen des West-Östlichen Diwans zusammen, eines vom Berliner Wissenschaftskolleg geförderten literarischen Austauschprogramms. Beide Bücher gewähren Einblicke in die Homosexualitätsdiskurse des Westens und Ostens.
Kermanis Einblick ist voyeuristischer Art. Er erzählt die Geschichte eines jungen Chemikers, der sich mit einem alternden Professor der Religionswissenschaft auf eine sadomasochistische Beziehung einlässt. Der Novelle sind zehn Dramolette vorangestellt, die in Anlehnung an den Dekalog gewaltsame Szenarien heterosexueller Liebe entwerfen. Sie zeichnen sich durch das Einvernehmen des Erzählers mit dem männlichen Akteur aus, dem die Frau auch dann zum Opfer fällt, wenn sie als Täterin dargestellt wird. Auf den verstörenden Horror der Heterosexualität, der durch den Bezug auf die Zehn Gebote auratisiert wird, folgt der panische Schrecken vor der Homosexualität, dem in der angehängten Erzählung so viel Platz eingeräumt wird wie den vorausgehenden Szenen insgesamt.
Der alte Professor – wie Kermani Kenner der hebräischen Bibel und der iranischen Mystik – betont immer wieder, dass er nicht schwul sei, schon deshalb nicht schwul sein könne, weil „Gott die Sodomie verboten habe, Sodomie, so nannte er es“. Aber der Erzähler, der die Perspektive des jungen, zunehmend machtlüsternen, sich schließlich als Gott wähnenden Wissenschaftlers und sadistischen Liebhabers einnimmt, spart nicht mit detaillierten Beschreibungen sexueller Praktiken. Am Ende zwingt der jüngere den älteren Akademiker, vor dem versammelten Publikum des Wissenschaftsinstituts in unflätiger Weise seinen Glauben zu verhöhnen: „Gott selbst sei gekommen, er habe die Menschen in den Arsch gefickt.“ Kermani legitimiert die pornographisch-blasphemischen Grenzüberschreitungen der angehängten Novelle wiederum mit der Autorität der Bibel, in diesem Fall mit einer prophetischen Warnung, die sich an den Dekalog anschließt: „Fürchtet nichts, denn um euch zu prüfen, ist Er, Gott, gekommen und damit Seine Furcht euch gegenwärtig sei, auf dass ihr nicht sündigt“ (Exodus 20,20). Dies schreibt ein Autor, der im Herzen der schwulenfreundlichen Stadt Köln wohnt: eine wuchtige Inszenierung lüsternen Schauderns vor männlicher Homosexualität, die als Sodomie dämonisiert wird.
Von solchen Mystifikationen ist Joachim Helfer um Lichtjahre entfernt. Der provokante Titel seines hellsichtigen Buches, Zitat einer Formulierung Hubert Fichtes, verweist auf den aufklärerischen Impetus, den es verfolgt. „Verschwulung der Welt“ will heißen: Dekonstruktion heteronormativen Denkens. An diesem Projekt sind zwei Stimmen beteiligt: Al-Daif besuchte Helfer für einige Wochen in Berlin, dieser wiederum seinen libanesischen Kollegen für einige Wochen in Beirut. Zunächst schrieb al-Daif einen Bericht über seinen schwulen Gast und veröffentlichte ihn in arabischer Sprache. Darauf antwortet Helfer, indem er das Buch in seine Einzelteile zerlegt und mit Kommentaren durchsetzt. Wie er herausarbeitet, biegt al-Daifs Darstellung die tatsächlichen Begebenheiten vielfach im Sinne orientalischer Vorurteile über Charakter, Begehren und Lebenswandel westlicher schwuler Männer um. Nicht immer ist klar, ob die hanebüchenen Stereotype, die al-Daif präsentiert, tatsächlicher Verblendung, publizistischer Vorsicht oder selbstironischer Pose entspringen. In jedem Fall geben sie dankbare Steilvorlagen für Helfer, der die heteronormativen Vorurteile ad absurdum führt. Dabei stellt Helfer wiederholt fest, dass die homophoben Phantasien, die al-Daif aufruft, weniger eine fundamentale kulturelle Differenz markieren als vielmehr einen Zeitvorsprung des Westens, der sich dem demokratischen Gesellschaftssystem verdankt. Solange ist es noch nicht her, dass in Deutschland der von den Preußen eingeführte, von den Nazis verschärfte und unter Adenauer übernommene Paragraph 175 abgeschafft wurde. Aber danach dauerte es vergleichsweise kurz, bis das Partnerschaftsgesetz und nun auch das Gleichbehandlungsgesetz möglich wurden – bei allen Klauseln, die auch noch fallen werden, wie die Vorenthaltung des Adoptionsrechts.
Eine der Erkenntnisse, die man bei der vergleichenden Lektüre von Kermanis und Helfers Buch gewinnt, besteht darin, dass die Beschwörung kultureller Differenzen den Blick trübt. Insofern zollt Kermani, der sich mit akademischen Büchern und journalistischen Essays über den west-östlichen Kulturkonflikt verdient gemacht hat, seinem früheren Förderer einen fragwürdigen Dank, wenn er als belletristischer Autor über homosexuelle Machtbeziehungen im Milieu eines Wissenschaftsinstituts schreibt. „Du sollst“ ist ein orientalistisches Buch, weil es mit mystischen Parabeln, biblischen Rahmungen und prophetischen Posen einen schriftgelehrten Schleiertanz aufführt. Sex zwischen Männern ist hier nicht nur Sex zwischen Männern, sondern soll mindestens auch eine Beziehung zwischen Lehrer und Schüler, Gebieter und Sklave, Gott und seinem Volk, Natur- und Religionswissenschaft, Okzident und Orient, Penis und Anus bedeuten. Diese Überkodierung demonstriert die stupende Informiertheit eines Autors, der in beiden Kulturkreisen zu Hause ist; aber sie enthüllt nichts, erhellt nichts, sondern verleiht der sexuellen Phobie einen verstörenden Resonanzkörper.
Auch al-Daif, der in den 1970er-Jahren in Paris studierte und promovierte, kennt sich in der europäischen Welt aus; auch er hüllt seine Darstellung in Nebel. Der Besuch des schwulen Kollegen ist für ihn schon deswegen eine Herausforderung, weil offen gelebte Homosexualität in der arabischen Welt keine Selbstverständlichkeit ist, sondern drakonisch verfolgt wird. Eine Herausforderung ist der Besuch aber auch für ihn persönlich, weil Helfer in einer langjährigen Liebesbeziehung mit einem Mann seines, al-Daifs, Alters lebt. Darauf deutet der Titel hin, den der libanesische Dichter für sein Buch wählt: „Wie der Deutsche zur Vernunft kam“. Er spielt zum einen darauf an, dass Helfer während seines Aufenthalts in Beirut eine deutsche Frau kennenlernte, mit der er ein Kind zeugte; zum anderen aber auch auf al-Daifs Vornamen, denn Vernunft heißt auf Arabisch rashid. Das klingt schon etwas anders: weniger nach der Bekehrung eines Schwulen zur Heterosexualität als nach der – wie auch immer getönten – Beziehung zwischen dem libanesischen Gastgeber und seinem deutschen Gast.
Tatsächlich kommt Helfer zur Vernunft, aber in dem Sinne, dass der kulturelle Austausch ihn beflügelt, jene Aufklärungsarbeit zu leisten, die der Libanese mit seinem Buch provoziert. Es ist eine intellektuelle Freude, Helfers analytischem Furor zu folgen und mitzuerleben, wie er traditionelle Vorstellungen von der Ordnung der Geschlechter und der Sexualität durcheinanderwirbelt. Er jongliert mit den Unterscheidungen von sex und gender, Männern und Frauen, Homos und Heteros, bis kein Stein des heteronormativen Tempels mehr auf dem anderen steht. So schwingt er sich auf zum Retter in der Not all derer, die ihr Leben und Denken nicht auf die heiligen Gebote des Patriarchats verpflichten können oder wollen. Helfers „Verschwulung der Welt“ ist auf seine Weise so lehrreich wie Judith Butlers „Unbehagen der Geschlechter“ – nur flüssiger zu lesen, weil es sich als biographischer Selbstversuch präsentiert.
Der Unterschied zwischen dem heiligen Ernst des Propheten, der Kermani befeuert, und dem nüchternen Witz des Analytikers, den Helfer in seiner Antwort auf al-Daif sprühen lässt, tritt noch markanter hervor, wenn man den Fluchtpunkt beider Bücher vergleicht: die Sehnsucht nach dem Kind. In Kermanis dunklem Buch gibt es eine Szene, in der Elternglück als Erfüllung menschlichen Daseins gefeiert wird, sinnigerweise im Zusammenhang des vierten Gebotes, das die Verehrung der Eltern verlangt. Es ist die einzige Episode des Buches, die von gegenseitiger Liebe erzählt; eine Episode, die sich prosaisch gibt („Mach mir Kinder“), dann aber der Kirchentagspoesie nicht entrinnt („Entscheidung zur Schöpfung“). Das Glück des Patriarchats wird hier den Schultern der „Engelchen“ aufgebürdet, und bei ihrer Zeugung liegen die Ahnen mit im Bett: „Ich schulde sie meinen Eltern“.
Auch für Helfer spielt das Kind eine zentrale Rolle, aber nicht als heterosexuelles Privileg oder heteronormativer Fetisch, sondern als legitimer Wunsch eines jeden Menschen: auch des schwulen Mannes, der deswegen seiner Partnerschaft nicht abschwört, und der heterosexuellen Frau, die sich deswegen nicht dem Lebensmodell der traditionellen Kleinfamilie ausliefert. Im Goethe-Institut lernt Helfer eine deutsche Journalistin kennen, eine in der Geschlechterforschung versierte Arabistin, die für eine englischsprachige Beiruter Zeitung schreibt. Sie werden Freunde und beschließen, ihren Kinderwunsch gemeinsam zu erfüllen. Al-Daif stilisiert dieses Ereignis als „unerhörte Begebenheit“ im Sinne der Novellentheorie und transformiert Helfers Lebensgeschichte in ein orientalisches Märchen, das von der wundersamen Konversion eines schwulen Europäers zur Heterosexualität handelt. Dem hält Helfer sein engagiertes Plädoyer für die Geborgenheit einer Regenbogenfamilie entgegen, der, neben dem schwulen Papa und der ledigen Mama, auch Helfers Lebensgefährte als Opa und sein junger Exlover als Kindermädchen angehören. Diese Familie ist gewiss nicht traditionell-heterosexuell, aber sie ist intakt – im Unterschied zur Familie des geschiedenen al-Daif.
Man kann den Gegensatz von Kermanis und Helfers Buch mit einem Begriffspaar kennzeichnen, das der russische Literaturwissenschaftler Michail Bachtin in die Romantheorie eingebracht hat. „Die Verschwulung der Welt“ ist dialogisch, weil das Buch als „Rede gegen Rede“, wie es im Untertitel heißt, verschiedene Stimmen zulässt, verschiedene „Alphabete“, wie al-Daif es nennt: ein heterosexuelles und ein homosexuelles, ein östliches und ein westliches, ein biographisches und ein dichterisches. Das Resultat ist ein Buch, das solchen Unterscheidungen letztlich den Boden entzieht, ein queeres Buch. Kermanis „Du sollst“ hingegen bleibt – wie auch al-Daifs Buch für sich genommen – trotz zahlreicher Dialoge monologisch, weil alle Stimmen, die Stimme des Erzählers ebenso wie die Stimmen der erzählten Figuren, im Bann der Heteronormativität stehen.
Für Helfers Lektion ist nicht jeder empfänglich: „Am Ende hört dabei ohnehin jeder nur das, was er sich selber vorstellen kann“, schreibt Helfer. Wie recht er hat, beweist die aktuelle Debatte um sein Buch, beweisen vor allem jene Rezensenten, die meinen, al-Daif wolle doch nur spielen und Helfer sei ein Spielverderber. Sie ergreifen Partei für das Subjekt, nicht das Objekt der Homophobie.
ANDREAS KRASS, 43, ist Literaturwissenschaftler an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main und Herausgeber des Buches „Queer denken“ (Suhrkamp 2003)
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