■ Schnittplatz: Sprecke auch Türkisch
Der Tagesspiegel ist, wenn auch im Tiergarten zu Hause, so etwas wie die Wilmersdorfer Witwe des Berliner Zeitungsmarktes. Behäbig, bodenständig, liberal-konservativ. Gern fletscht sie die gelben Zähne gegen allzu fortschrittliche Tendenzen. Ausgerechnet die alte Dame Tagesspiegel hat sich jetzt eine türkische Untermieterin genommen. Die seit ihrer Kindheit in Berlin lebende Autorin Suzan Gülfirat schreibt seit Ende Juli täglich eine Art Türkisch-Lehrgang für deutsche Leser: „Vielleicht haben Sie ja Lust sich einen Minimalwortschatz Alltagstürkisch zuzulegen“, hieß es zur Eröffnung.
Und die Idee, ein türkisches Räumchen im Regionalteil einzurichten, ist, selbst aus liberal-konservativer Sicht, gar nicht so verkehrt. Schließlich leben 160.000 türkischsprechende Berliner in der Stadt. Genauso wie Lebensmittelketten für diesen potentiellen Kundenmarkt momentan verstärkt türkischsprechende Azubis einstellen, darf auch ein wirtschaftlich denkender Verlag diese mögliche Lesergruppe nicht außer acht lassen – wo doch die Stammkundschaft langsam wegstirbt. Deshalb hat das Ressort „Stadtleben“ ein Schild herausgehängt: „Wir sprecke auch Türkisch.“ Wobei die Leistung der Autorin Gülfirat gar nicht geschmälert werden soll: In ihrer soliden Kolumne erfährt man einiges über die türkische Alltagskultur und nebenbei zum Beispiel, daß im „Futbol maçi“ der Schiedsrichter „Hakem“ heißt.
Jedoch hat der Tagesspiegel nicht mit seiner Altleserschaft gerechnet, die prompt Zeter und Mordio anstimmte: „Die ersten Tage waren die Tage der Motzer“, berichtet Ressortleiter Lorenz Maroldt. Seitdem wird die Schlacht um Wien auf der Leserbriefseite ausgetragen: „Nie wieder Tagesspiegel. Hier ist Deutschland“ und „übertriebene Anbiederung an alles Ausländische“, heißt es da. Dabei hat man laut Redaktion die schlimmsten Briefe erst gar nicht veröffentlicht. Es ist eben nicht leicht, sich anzubiedern, wenn man bislang nicht besonders turkophil war.
Doch vorerst „stärkt die Redaktion Frau Gülfirat den Rücken“. Schließlich schreibt schon der Koran: „Wer mit Gutem kommt, der soll den zehnfachen Lohn empfangen.“ Michael Ringel
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