Sprache, Sex und Gender: Hey, was ist dein Geschlecht?
Seit mindestens einem halben Jahrhundert wird im deutschsprachigen Raum debattiert, was Geschlecht ist. Ein Überblick.
Den Versuch, gendergerecht zu schreiben und zu sprechen, gibt es seit Jahrhunderten. Das bürgerliche „Meine Damen und Herren“ oder das christliche „Liebe Brüder und Schwestern“ etwa sind recht alte Beispiele. Etwas neuer, aber auch nicht mehr ganz so neu, sind Schreibweisen, die einzelne Wörter verändern. Das große I mitten im Wort kam in den achtziger Jahren im deutschen Sprachraum auf. Die taz-Redaktion etwa begann 1986, inspiriert von der schweizerischen Wochenzeitung, dieses sogenannte „Binnen-I“ in einige ihrer Texte zu schreiben.
Empfohlener externer Inhalt
Behörden und Verwaltungen zogen bis Mitte der Neunziger nach. Damals hieß das allerdings noch nicht gendern. Sondern zum Beispiel „nichtsexistischer Sprachgebrauch“. Der Blick auf Gender in dieser Debatte war allerdings binär, das heißt: Man ging meist davon aus, dass es genau zwei Geschlechter gibt. Um eine „Sprache für beide Geschlechter“ geht es etwa in einer entsprechenden Broschüre der Unesco von 1993.
Dieser Blick ist seither, in der Debatte um geschlechtergerechte Sprache und darüber hinaus, ein anderer geworden. Zeit, noch einmal festzuhalten: Was ist eigentlich Geschlecht? Und in welchen Worten spricht man am besten darüber?
Was die Gesellschaft draus macht
In den 1960er Jahren kam in der Forschung ein Begriffspaar auf, das revolutionär war – jedoch mittlerweile überholt ist: sex versus gender. Sex als biologisches, körperliches Geschlecht, naturwissenschaftlich messbar, indiskutabel und daher unpolitisch. Dagegen gender als gesellschaftliche Erwartungen, als Normen, die formbar sind.
Aus feministischer Sicht war die begriffliche Trennung damals eine Errungenschaft. Denn so konnte man sich aus der Vorstellung befreien, dass geschlechtliche Eigenschaften, Fähigkeiten oder auch Vorlieben bloß ein Resultat der Biologie seien. Man konnte sie als etwas mit Eigendynamik betrachten – und kritisieren. Gleichzeitig musste man sich nicht gegen den mächtigen Biologiediskurs stemmen. Es war eine Art Burgfrieden. Man überließ der Naturwissenschaft ihr sex und kritisierte von da an gender – als das, was die Gesellschaft daraus machte.
Wissen ist Macht
Was ist Rassismus? Warum schreibt man oft „trans“ klein, aber „Schwarz“ groß? Was meinen die Gender Studies genau, wenn sie sagen „Geschlecht ist konstruiert“? Es ist unabdingbar, Grundlagen der kritischen Gesellschaftswissenschaften zu kennen, wenn man über antirassistische und queerfeministische Politiken diskutiert.
Von vorn erklärt
In dieser Reihe erscheint ab sofort jede Woche auf dieser Seite ein erklärender Text zu einem oder mehreren Begriffen aus dem Bereich Feminismus und Antirassismus. Kommende Woche folgt ein Essay zum Thema: „Privilegien“.
Alle Folgen unter taz.de/grundlagen
Aufgekündigt wurde dieses Einverständnis in den Neunzigern durch einen neuen Konstruktivismus. Vor allem die Philosophin Judith Butler brach die Sex-gender-Trennung in ihrem einflussreichen Werk „Das Unbehagen der Geschlechter“ auf. Wenn das soziale Geschlecht kein Fakt ist, sondern Normvorstellungen unterliegt, so Butler, dann betreffe das unweigerlich auch die Biologie.
Butler und die Genderforschung, die ihr folgte, wiesen darauf hin, dass Zweigeschlechtlichkeit auch in der Naturwissenschaft menschengemacht ist. Weder Chromosomen, noch Hormone, noch Körperformen, Behaarung oder Fruchtbarkeit fallen qua Natur in zwei säuberliche Schubladen. Stattdessen kategorisieren der biologische oder der medizinische Blick derlei Phänomene in zwei Idealtypen – und erklären alles Abweichende zu Krankheit oder Abnorm. Vor diesem Hintergrund war die Trennung in sex und gender nicht länger haltbar. Geschlecht ist immer sex und gender zugleich.
Weiblich, männlich, sonstiges
Wie viele Geschlechter gibt es also? Das soziale Netzwerk Facebook stellt seit einigen Jahren über 60 Stück zur Auswahl. Deutsche Behörden kennen gerade mal drei: divers, weiblich und männlich. Die Genderforschung beantwortet die Frage in der Regel mit einer Gegenfrage: in welchem Kontext? Für Erhebungen zur Diversität am Arbeitsplatz oder Partnerschaftsgewalt kann es sinnvoll sein, von weniger Gendergruppen auszugehen, weil große Datensätze sonst schwer auszuwerten sind. Hier arbeitet man in der Regel mit drei: weiblich, männlich und sonstiges/keine Angabe, wobei die Daten der Personen, die „sonstiges“ angeben, leider oft zugunsten der altbekannten Mann/Frau-Binarität hintenüberfallen.
In manch anderem Kontext darf es viel mehr Geschlechter geben. In einigen lesbischen Subkulturen gelten Kategorien wie Lesbe, Butch, Dyke oder Femme schon seit Jahrzehnten als eigene Geschlechter. Und zwar weil die Träger*innen das Wort „Frau“ als Bezeichnung verstehen, die nur innerhalb einer heterosexuellen Norm des Begehrens Sinn ergibt. Manche genderwissenschaftliche Theorien verstehen sogar jede Überschneidung von Gender mit anderen sozialen Kategorien als eigenes Geschlecht.
„Mutter“ wäre in dieser Lesart ein eigenes Geschlecht, ebenso wie Woman of Color oder „queere, nichtbinäre Person mit Behinderung“. Die Frage nach dem Kontext ist immer die Frage nach wissenschaftlicher oder politischer Pragmatik: Verstehe ich eine Sache besser oder schlechter, indem ich die Sprache ausdifferenziere? Kann ich politisch mehr oder weniger erreichen, wenn ich die Gruppen verkleinere? Das ist oft ein Dilemma. In der politischen Arbeit hilft man sich deshalb gerne mit einer Kombi aus kleinteiliger Sprache und vereinenden Überbegriffen (auch umbrella terms genannt). „Frauen*“ mit Sternchen ist so einer, oder FLINT* (für Frauen, Lesben, inter, nichtbinäre und trans Menschen).
Lauter Adjektive
Dass sich das Verständnis der Begriffe gender, sex und Geschlecht also verändert hat, betrifft natürlich auch Wörter, die von ihnen abgeleitet sind. Als „transsexuell“ zum Beispiel hat man früher Menschen bezeichnet, die bei der Geburt ein binäres Geschlecht zugewiesen bekommen hatten, das ihrem eigenen nicht entspricht.
Weil aber „-sexuell“ zu sehr an die 1960er-Definition vom biologischen sex erinnert, und außerdem an Sexualität, also ein ganz anderes Thema, wird der Begriff mittlerweile von vielen abgelehnt. Stattdessen ist „transgender“ üblicher geworden, oder „transgeschlechtlich“ – oder immer häufiger einfach „trans“. Alle diese Begriffe sind Adjektive und werden als solche einzeln stehend und klein geschrieben, nicht etwa an andere Begriffe angeklebt.
Sexuelle Orientierung hat mit trans Geschlechtern erst mal nichts zu tun. Auch die Frage, ob sich eine Person in den binären Geschlechtern verortet, ist nochmal eine andere. Es gibt trans Menschen, deren Geschlecht binär ist – nur eben nicht das, das man ihnen bei Geburt zugewiesen hat. Eine trans Frau ist also eine Frau. Non-binäre Menschen hingegen befinden sich außerhalb der Binarität. Sie mögen Begriffe wie „Mann“ oder „Frau“ oder entsprechende Pronomen für sich verwenden oder auch nicht. Manche trans Menschen sind non-binär, aber es ist nicht dasselbe. Wer da verwirrt ist, kann sich leicht helfen: einfach fragen, wie Menschen angesprochen werden möchten.
Weil Geschlecht nun also nicht mehr binär ist, weder in der Welt noch in der Forschung, erscheinen auch optisch binäre Schreibweisen wie das „Binnen-I“ längst nicht mehr zeitgemäß. Ersetzt werden sie zum Beispiel durch den Unterstrich „_“, der das Genderspektrum oder einen Freiraum der Zuordnung symbolisiert; oder durch den Genderstern „*“, dessen Enden in viele Richtungen gehen, wie ein Knoten im Netz der gesellschaftlichen Positionen. Mittlerweile ist auch der Doppelpunkt „:“ häufiger zu sehen, meistens mit dem Argument, dass er von allen Schreibweisen am wenigsten das Schriftbild stört.
Welche Schreibweise man verwenden sollte, hängt aber noch von anderen Faktoren ab als dem eigenen politischen und ästhetischen Empfinden. Softwares etwa, die Onlinetexte für die Barrierefreiheit in Audiodateien übertragen, könnten bei einigen Schreibweisen ins Stolpern geraten, während sie andere in ein schönes flüssiges Audio mit winzigem Päuschen verwandeln.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Kaputte Untersee-Datenkabel in Ostsee
Marineaufgebot gegen Saboteure
BSW-Anfrage zu Renten
16 Millionen Arbeitnehmern droht Rente unter 1.200 Euro
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Psychiater über Kinder und Mediennutzung
„Die Dinos bleiben schon lange im Schrank“