■ Die Leiden der Pascale Hugues – oder: Wie eine ausländische Korrespondentin den Wahlkampf erlebt: Spießer starren dich an
Seit Mitte August warte ich ... Pflichtbewußt bin ich mitten in diesem schwül-heißen Sommer aus dem Urlaub zurückgekehrt, um rechtzeitig an der Zielgeraden des „Wahlmarathons“ zu stehen in diesem „Superwahljahr“, wie man uns seit Monaten vorgaukelt. Eine Woche vor dem Tag X warte ich immer noch ... auf einen Fieberstoß, auf ein kleines Aufflackern, darauf, daß wenigstens irgendetwas passiert! „Ja, ja ... aber fasse dich kurz!“, schnurrt mein Pariser Redakteur in den Apparat und unterdrückt nur schlecht ein Gähnen, wenn ich ihn von der absoluten Notwendigkeit zu überzeugen suche, eine Analyse über das Schicksal der FDP oder eine „lebendig geschriebenes“ Porträt Scharpings im Blatt unterzubringen. Dann lauere ich auf die Meinungsumfragen, auf jeden Ausschlag in der Kurve, und sei er noch so klein, auf den geringsten Rückgang der Sympathien für die Partei des Kanzlers und hoffe, daß vielleicht ein Deus ex machina in allerletzter Minute diesen faden Wahlkampf würzt.
Fad sind auch die Themen der Kampagnen. Hat denn, vom allgemeinen hysterischen Angriff auf die PDS einmal abgesehen, dieser Wahlkampf überhaupt Themen? Er ist totlangweilig, inhaltsleer, ohne jede Vision, ohne jede Konfrontation von Ideen. Man muß sich wirklich fragen, ob Deutschland, das sich vier Jahre nach der Vereinigung aufregenden Fragen im Innern (Debatte über die deutsche Identität, die ethnische Ausrichtung der Gesellschaft, die soziale und psychologische Vereinigung der West- und Ostdeutschen) wie über das Außen (der Platz Deutschlands in Europa und der Welt, seine Rolle eines Advokaten der osteuropäischen Länder und seine Funktion eines Scharniers zwischen Ost und West) stellen muß, nicht einfach eingeschlafen ist.
Fad sind auch die Wahlplakate. SPD und CDU scheinen sich einen perversen Konkurrenzkampf zu liefern: Wer von beiden wird das langweiligere, konventionellere, blassere Bild abgeben? Kohl mit seinem runden, aufgedunsenen Gesicht, der mit verschwommenem Finger auf die Straße zeigt und die Inkarnation der deutschen Nation zu sein behauptet? Oder schlimmer: dieses sozialdemokratische Pärchen von Yuppies mit gelben Schutzhelmen, Hornbrillen und gestreiften Hemden, dieses Pärchen, das eine Zukunft verspricht, die so strahlend ist wie seine weißen Zähne. Ich habe lange gebraucht, bis ich begriffen habe, wer sie sind: die Proletarier dieses gesättigten Deutschland, das sich in seinem Wirtschaftswunder räkelt und seit vier Jahren jeden Sinn für Proportionen verloren hat, weil es sich in seiner übertriebenen Angst vor Verarmung gefällt.
Und dann das Plakat, das den „Wechsel-Kanzler“ zeigt! Es drückt Kontinuität und Sklerose bis ans Lebensende aus! Wo ist da die Alternative? Wie kann man denn Lust darauf kriegen, den guten dicken, etwas schwerfälligen, provinziellen, braven Kanzler Kohl gegen diesen Rivalen „auszuwechseln“, der ihm letztlich so sehr gleicht, der zwar weniger voluminös, aber noch verklemmter und noch fader ist. Ein „lebendig geschriebenes“ Porträt Scharpings zu verfassen, das ist eine Spitzenleistung. Zum Glück bringen der so dämonisierte Gregor Gysi und die Plakate der PDS ein bißchen Witz, Humor und Phantasie in dieses einschläfernde Alltagsgrau.
Witz, Humor, Phantasie ... ich habe oft den Eindruck, daß diese drei köstlichen Qualitäten in der deutschen Politik als die drei Todsünden gelten. Charme, Schlagfertigkeit und rhetorische Begabung scheinen für einen deutschen Politiker ein Handicap zu sein. Sie fürchten sofort, man könnte Argwohn schöpfen und sie der Oberflächlichkeit bezichtigen. Langweilig zu sein, einen provinziellen Akzent zu haben und leblose Phrasen zu dreschen, das sind hier die Gütesiegel für Seriosität und Vertrauenswürdigkeit. Wehmütig erinnere ich mich da an die Rededuelle im House of Commons in London, wo ich oft ein oder zwei Stunden lang dem politischen Talent, der Feinheit der Analyse und den humorvollen Einlagen, die den ganzen Saal erschütterten, lauschte. Ich meide diese Art von „Entspannung“ in der erdrückenden Atmosphäre des Bundestages.
Seit Mitte August warte ich ... und nun bleibt Gott sei Dank nur noch eine Woche durchzustehen. Wenn einem immer wieder Scharping, Schröder, Kinkel, Rexrodt, diese traurigen Herren, von den Plakatwänden entgegenstarren („Haben die eigentlich nichts als Spießer anzubieten?“, würde ein Lästermaul von der andern Seite des Rheins angesichts des mangelnden Formats der Kandidaten wohl fragen), kann man schließlich sogar Kohl etwas abgewinnen. Nach diesem Wahlkampf, der einem Passionsweg gleichkommt, wird man am 17. Oktober fast erleichtert darüber sein, wieder die familiäre Wärme der alten christdemokratischen Pantoffeln und dieses guten dicken deutschen Langweilers vorzufinden. Letztlich ist das Resultat nicht so wichtig. Wenn nur dieser elende Marathon zu Ende geht. Pascale Hugues
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen