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Spiel und Schlacht verloren

■ 33.686 zahlende Zuschauer im Olympiastadion, eine alte Dame und die „Deppen von München“

„Wenn Blau-Weiß in Berlin spielt, bin ich immer dabei. Manchmal fahre ich auch zu Auswärtsspielen mit“, sagt Fan Martin, 23. Gehört zum Fan nicht auch eine gewisse Ausstattung? Mütze, Schal und (Bier-)Fahne. „Klar“, sagt Martin. Und: „Normalerweise ziehe ich auch meine Klamotten an. Aber heute geht das nicht. Ich bin doch kein Vollidiot.“ Martin hat Erfahrung, er weiß: „Wenn die Hertha-Frösche einen von uns sehen, machen die Jagd. Da ist es schon besser, sich leise zu freuen.“ Martin, seine Kollegen und nicht zuletzt die Zweitliga-Kicker von Blau-Weiß 90 haben an diesem Mittwoch wohl ihr schwerstes Auswärtsspiel dieser Saison zu überstehen. Es findet im heimischen Olympiastadion statt, der Gegner ist Lokalrivale Her tha BSC.

33.686 zahlende Zuschauer sind gekommen. Viel, wenn man bedenkt, daß hier ein Aufsteiger gegen ein Profi-Team spielt, das vier Tage zuvor zweistellig unterging und fortan von der Boulevard-Presse als „die 2:11-Deppen von München“ beleidigt wurde.

Schon vor dem Anpfiff gibt's Pfiffe. Als die Portraits der Blau-Weißen auf der Anzeigetafel erscheinen, buht das Stadion mit einer Stimme. Zu diesem Zeitpunkt ist klar: Das ungeliebte Mauerblümchen aus Mariendorf soll an diesem Abend niedergebrüllt werden. Der alte Nimbus, die fußballerische „Nummer eins“ dieser Stadt zu sein, soll wiederhergestellt werden. Die Parole lautet: „Hertha ist wieder oben. Ganz oben.“

Martin blickt düster. „Du liebe Güte“, sagt er, „das habe ich nicht erwartet.“ Das Spiel beginnt. Hertha, mit alter Leidenschaft und fiebrigem Bemühen nach einem frühen Tor, rennt an, macht Druck, gönnt sich keinen Verschnaufer. Übereifer, der sich in der 38.Minute rächt. Auf der linken Seite vertändelt Herthaner Fistler das Leder. Der beste Blau -Weiße des Abends, Verteidiger Robert Holzer, nimmt auf und flankt zum Zweitbesten, Amateur-Stürmer Thomas Adler Volley, Tor. Die Masse pfeift. Adler jubelt und rennt zu einer Ecke, wo sonst seine Fans stehen. Heute nicht. Heute freut sich nur eine Handvoll „Verwegener“, so Martin, die es wagen, ihre Sympathien nicht zu verstecken. Trotzreaktion zur Halbzeit: „Ha, ho, he, Hertha BSC“, noch immer steht das Publikum hinter der traditionsreichen und traditionell skandalumwitterten, großen, alten Dame des Berliner Fußballs.

Ein leichter Sympathieumschwung vollzieht sich in Minute 67. Robert Holzer gelingt nach wunderschöner Kurzpaßkombination das entscheidene 0:2. „Zugabe, Zugabe“. Nach und nach wird klar, wer das bessere Team an diesem Abend ist.

Und als Schieri Pauly die Spieler zum Duschen schickt, geschieht etwas ganz Obszönes: Während die Hertha-Kicker wie geprügelte Hunde das Grün verlassen, laufen die ungeliebten Sieger eine Ehrenrunde. Winken ins erboste Publikum und manchmal strecken sie den Mittelfinger in die Höhe. Und oben auf der Tribüne macht Hertha-Vizepräsident Gajda eine bittere Miene: „Spiel und Schlacht verloren. Scheiße!“

„Auf diesen Sieg gehe ich einen saufen“, sagt Martin, der in Spandau wohnt. Wo? Natürlich im einzigen Stadtteil Berlins, in dem das heute Nacht möglich ist, in Mariendorf.

Holger Schacht.

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