Spiel noch einmal, Werner!

Gesichter der Großstadt: Tanzte auf vielen Hochzeiten und durch die Jahrzehnte – der neunzigjährige Kapellmeister Hans-Werner Kleve  ■ Von Jens Rübsam

Ein Foto mit Saxophon? „Nein“, sagt Hans-Werner Kleve zu dem Fotografen, und es klingt fast wie eine Entschuldigung, „nein, es geht wirklich nicht mehr“. Ein Bild an der Orgel, ja, das wäre möglich. Aber mit Saxophon? Nein, das wäre nur gestellt, nur gelogen. „Ich bringe einfach keinen Ton mehr raus.“ Das Alter halt. Und der Rücken. „Es fällt mir schwer, längere Zeit zu stehen.“ Aber ein Foto an der Orgel? Kein Problem. Er bittet in sein Arbeitszimmer. Setzt sich an die neue, elektronische Orgel, läßt seine Finger über die Tasten schweben. Sein linker Fuß wippt im Takt. Seine Lippen hüpfen. Er braucht keine Noten. Er kann's noch immer. Spielen wie in alten Zeiten. Hans-Werner Kleve, Berlins ältester und bekanntester Tanzkapellmeister, ist Samstag 90 Jahre alt geworden.

Weißes Jackett, weißes Hemd, schwarze Fliege. Ein gutaussehender Mann mit tänzelnden Augen, swingendem Lächeln und einem Saxophon in den Händen. Ein Foto, zwanzig Jahre alt. Rosemarie, seine Frau, hat es ausgewählt, als es darum ging, ein Cover für das Buch ihres Mannes zu gestalten. Werner, hat sie gesagt, dieses Foto ist das schönste, das nehmen wir. Im Anzug und mit Saxophon, so kennen ihn die Berliner, so sollen sie ihn sehen auf dem Umschlag seiner Autobiographie. Dazu ein schwarzer Hintergrund, verziert mit Notenlinien, in zartem Grau, und einer goldenen Schrift „Tanz auf vielen Hochzeiten – Ein Berliner Tanzkapellmeister erzählt aus seinem Leben“. Es wird fast alles gesagt über das Musikerleben des „HWK“: Beschwingt war es und auch ein wenig glamourös. Was außen nicht zu sehen ist, steht drinnen geschrieben. Es war ein hartes Leben: 1. Weltkrieg, 2. Weltkrieg, die Nachkriegsjahre, „Tanz auf vielen Hochzeiten“ eben.

Doch zuerst diese Geschichte, die kaum einer kennt: Wie aus Klebe der Künstler Kleve wurde. Er sei gehänselt worden zu Schulzeiten. „Klebe, wir kleben dich fest“. Oder: „Klebe, wir kleben dir eine.“ Irgendwann habe es ihm gereicht. Aus dem b machte er ein v. Dabei ist es geblieben. So steht es auf den alten Platten und auf den neuen CDs. Auf jedem Plakat und auf jedem Foto.

Hans-Werner Kleve sitzt in seinem Spandauer Vorstadthäuschen und weiß nicht so recht, welche Geschichten er denn nun erzählen soll. Die kleinen oder die großen? Viel habe er erlebt. So viel, daß er 364 Seiten damit füllen konnte. Große Dinge und kleine Erlebnisse. Wie er als Junge Spalier stand, in kleiner Leutnantsuniform, mit Schärpe und mit Degen, und Kaiser Wilhelm I. und Kaiserin Auguste Viktoria zuwinkte. Wie die Kaiserin auf ihn zukam, ihn anlächelte und ihm die Hand drückte. Wie er einmal ins Krankenhaus mußte, weil er in einem Pickel gepult und beinah eine Blutvergiftung bekommen habe. „Davor kann ich nur warnen. Man soll nicht im Gesicht rumpulen.“ So hat er es in seinem Buch notiert.

Oder er erzählt jene Geschichte, die ihn lange beschäftigte: „Eines Tages kam mein Bruder und teilte mir mit: ,Ich bin in die SA eingetreten, hast du nicht auch Lust mitzukommen?‘“ Er habe sich Bedenkzeit ausgebeten. Ja, sagt Hans- Werner Kleve nachdenklich, auch er sei anfangs begeistert gewesen von der faszinierenden Demagogie der Hitler-Reden. „Das ganze deutsche Volk jubelte ja mit.“ Und so habe auch er mitgejubelt. Anfangs jedenfalls. Eingetreten in die SA sei er aber nie.

Und da ist diese Geschichte mit dem Staatsrat Schäfer, der ihn nach einem Auftritt im Ufa-Palast ins Propaganda-Ministerium bestellte. „Wissen Sie eigentlich, daß Sie jüdische Musik gespielt haben?“ fragte dieser. „Wie kommen Sie denn auf so etwas?“ fragte der junge Kleve zurück. „Ich habe Melodien und Schlager in meinem Programm, die alle anderen Kapellen in Berlin seit Jahren spielen.“ „Nein, das stimmt nicht. Sie hatten den Titel ,Über die Prärie‘ in Ihrem Programm. Wußten Sie nicht, daß der Komponist Friml ein jüdischer Komponist ist?“ polterte Schäfer. „Nein, das wußte ich nicht“, sagte Kleve. Dann sei das Gespräch beendet gewesen. Ein paar Tage später bekam er einen Einberufungsbefehl zugestellt.

Und da sind die vielen Geschichten von den vielen Lokalen, in denen er gespielt hat. In der „Rosendiele“ in Zehlendorf, im „Café Melodie“ am Kurfürstendamm Ecke Brandenburgische Straße, im „Piccadilly-Club“ am Kurfürstendamm, im „Bürger- Keller“ in der Budapester Straße oder in der „Taverne“ am Lützowplatz. „Von denen gibt es heute keine mehr.“ Und da sind auch die vielen Geschichten von den vielen jungen Mädchen, die ihn, den Tanzkapellmeister, verehrten. „Ich hatte immer regen Zuspruch“, schmunzelt Hans-Werner Kleve. Irgendwann aber sei die Zeit vorbei gewesen. „Man hat aufgehört, von Blume zu Blume zu hüpfen.“ Irgendwann sei die Rosemarie im „Bürger-Keller“ gewesen. Eine junge hübsche Frau, die er ansprach und zu einem Glas Sekt einlud. „Das mit uns hat sich so langsam entwickelt“, sagt Rosemarie heute. Erst viel später haben sie geheiratet. Ganz heimlich.

Hans-Werner Kleve klappt das Buch zu. Legt es zurück auf den Tisch. Lehnt sich zurück. Und denkt nach. Was ist geblieben? Sicher, das Buch ist geschrieben, das von einer Zeit erzählt, die viele heute nicht mehr kennen. „Ich hoffe, daß es viele junge Leute lesen.“

Aber seine Musik? Die Tanz- und die Barmusik? „Im Radio läuft nur noch Remmidemmi, von morgens bis abends.“ Höchstens im ARD-Nachtexpress ist mal was zu hören. Und im Bayerischen Rundfunk. „Da gibt es eine Sendung, die jedesmal mit einer Melodie von ihm eröffnet wird“, sagt Rosemarie Klebe.