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"Speakers Corner" im Tempelhofer ParkVon Frühstückseiern und der Suche nach Freiheit

Der "Speakers Corner" im Tempelhofer Volkspark soll die neue Meckerecke der Berliner werden. Bilanz des ersten Tags: Selbstbewusstsein haben viele - Thema ist egal.

Auf dem Tempelhofer Feld ist nicht nur Skaten und Radfahren möglich, sondern auch öffentliches Schwingen von Reden. Bild: dpa, Rainer Jensen

Die einen versuchen es mit Striptease, die anderen seriös, aber reden wollen sie alle. "Mein Ziel ist es, einen Marathon zu laufen", erzählt Robin Spaetling. Der Neuköllner steht auf einer drei mal drei Meter großen Bühne am Biergarten am Eingang Columbiadamm im Tempelhofer Volkspark und plappert selbstbewusst in ein knallgelbes Mikrofon. Er ist kein Berufsredner, und doch spricht er so souverän, als habe er nie etwas anderes gemacht. "Heute bin ich um acht Uhr aufgestanden, um im Park zu trainieren." Er habe seine Getränkeflaschen ringsum im Gebüsch versteckt. "So kann ich bei jeder neuen Runde, die ich laufe, eine neue Flasche mitnehmen", erklärt er. Bereits nach einer Runde seien jedoch alle Flaschen verschwunden gewesen. Geklaut. "Wer macht so etwas?", fragt der 33-Jährige mit schelmischem Unterton. Einen Moment lang herrscht Ruhe, dann setzt tosender Beifall ein.

Neun Redner treten beim ersten Redewettbewerb zur Eröffnung des neuen "Speakers Corner" gegeneinander an. Schülerin trifft Jongleur, Schauspielerin trifft Rentner - die Regeln sind einfach. Jeder muss die rund dreihundert Zuschauer innerhalb von zwei Minuten mit einem beliebigen Thema in seinen Bann ziehen. Die besten acht kommen in die Finalrunde - und bekommen nochmals acht Minuten Redezeit. Anschließend wird von einer Jury, darunter Schauspieler Frank-Lorenz Engel und Lektorin Meike Herrmann, der bester Redner gewählt - anhand von Darstellung, Persönlichkeit und Publikumsresonanz.

Aufgerufen zu dem Wettbewerb hat die Initiative "Berliner Redekurse" um Rhetoriktrainer Peter Lüder. Nach dem Vorbild der englischen Hauptstadt London, wo es im Hyde Park seit einem Parlamentsbeschluss im Jahr 1872 eine offene Bühne für Redner gibt, soll nun auch Berlin eine solche Redemöglichkeit bekommen. "Wir haben uns gewundert, warum es so etwas hier noch nicht gibt", sagt Christoph Kalbitzer, Sprecher der Berliner Redekurse. Initiator Lüder ergänzt: "Wir möchten einen Ort anbieten, wo jeder reden kann, wo andere zuhören und mitmischen können. Jeder Mensch hat seine eigene Geschichte." Der Speakers Corner sei der richtige Ort, diese zu erzählen. Grundsätzlich sei dabei alles erlaubt - "nur rassistischen Dreck wollen wir hier nicht hören", so Lüder.

Eine der BerlinerInnen, die sich an diesem Sonntag zu Wort melden, ist Katharina Kwaschik. Die Schauspielerinspricht mit leiser Stimme von Freiheit und Glück, dann wird sie plötzlich lauter. "Viele Menschen sind heute so gleichgültig und schluckten alles, was ihnen gesagt wird!" Was sie sagt, klingt ehrlich überzeugt - gespielt ist davon nichts. Erst gestern sei sie in einer Halle des Flughafen von Palma auf ein großes Labyrinth aus Metallzäunen gestoßen. "Zweihundert Menschen laufen da durch, ohne sich Gedanken zu machen, warum", sagt sie. So etwas müsse aufhören. "Die Leute sollen über Barrikaden springen, sich widersetzen, um glücklich und frei leben zu können."

Auf gesellschaftliche Botschaften folgt Triviales vom Kaffeetisch. "Heute morgen saß ich beim Frühstück und wollte mein Ei essen", plaudert Matthias Goike in das Mikrofon. Dann habe ihn plötzliches Kindergeschrei von der Straße gestört - und sein Ei sei ihm egal gewesen.

Banales begegnet Botschaft, Meinung stößt auf Mitteilungsbedürfnis. Keiner stottert, rote Köpfe sucht man vergebens. Und keiner verliert den Faden - wo es keinen Faden gibt, kann man auch keinen verlieren. So besteigt auch Schülerin Paula Dölling die Bretter, die die Welt bedeuten. Spontan habe sie sich dazu entschlossen, auf dem Podium zu erzählen, was sie berührt. Die quirlige 13-Jährige ist zwar die jüngste Teilnehmerin, springt dennoch selbstbewusst auf die Bühne und berichtet vom Leben als Jugendliche. "Viele Erwachsene können sich nicht in uns hineinversetzen", sagt sie, "Jugendliche haben auch Gefühle. Sie stehen nicht nur jeden Tag vor dem Spiegel und zählen ihre Pickel."

Das Publikum lacht, doch Paula meint es ernst und wirkt fast etwas irritiert, als die Zuschauer applaudieren. "Ich finde, wir haben zu wenig Rechte, dürfen beispielsweise nicht in viele Diskotheken." Die Menschen sollten einfach mal darüber nachdenken, denn Jugendliche seien auch normale Leute wie alle anderen. "Das wollte ich bloß mal sagen", endet Paula.

Speakers Corner

In der "Ecke der Redner" im Hyde Park in London kann nach einem Parlamentsbeschluss vom 27. Juni 1872 jeder Reden zu beliebigen Themen halten - nur die königliche Familie ist tabu. Bis 1783 stand an jener Stelle der Galgen.

Die Berliner Rednerecke befindet sich ab sofort neben dem Biergarten am Eingang Columbiadamm im Tempelhofer Park.

Genau das sei der Sinn der Sache, sagt Kalbitzer. "So etwas, wie Paula gemacht hat, ist wirklich großartig", sagt er. "Wir wollen mit der Aktion auch prüfen, ob die Berliner Schnauze wirklich hält, was sie verspricht." Die Hemmungen seien bei vielen Berlinern jedoch noch ziemlich groß. Im Vorfeld zum Wettbewerb hatten sich 13 Redner angemeldet, nur 4 seien erschienen. Ohne spontane Wortmeldungen aus dem Publikum wäre es dabei geblieben. "Es muss selbstverständlich sein, in der Öffentlichkeit offen seine Meinung zu sagen", so Kalbitzer.

Botschaft mit Striptease

Auch Steffen Borchert nutzt diese Chance. Er tritt im beigefarbenen Designeranzug vor die Zuhörer, zieht sich bis auf die Unterwäsche aus. "So könnt ihr euch ein besseres Bild von mir machen", sagt er. Einzelne Besucher schauen sich irritiert an, als der Mann mit dem wirren Haar sich nach dem Strip mit einer bunten abgewetzten Weste, Camouflage-Hose und verfilzten Stulpen neu bekleidet. Noch während er sich umzieht, verkündet er seine Botschaft: Kleider dürfen keine Leute machen. Jeder solle den Mut haben, so zu sein, wie er will. "Jeder soll sich so anziehen, sich so bewegen, wie er möchte", so Borchert. "Wir brauchen in Deutschland weniger Urteile, weniger Bewertung, aber viel mehr Begegnung." Stille im Publikum - viele Zuschauer scheinen in diesem Moment darüber nachzudenken, was Borchert sagt. "Mir geht es nicht darum zu beeindrucken, mich interessiert auch nicht, wie meine Rede angekommen ist", sagt er nach der Ansprache. "Ich möchte den Leuten einfach nur erzählen, was mich bewegt, meine Gefühle vermitteln."

Leider kommt Borchert aus Hannover, bedauert Kalbitzer. Und auch wenn einige der anderen Teilnehmer die gewohnte Flapsigkeit gezeigt hätten, könne von Berliner Schnauze nicht ganz die Rede sein. "Wenn sich mehr auf die Bühne getraut hätten, wäre die Schnauze deutlicher geworden."Schließlich sei dies das Ziel der Aktion: die freie Rede zu kultivieren. Zukünftig wird im Tempelhofer Volkspark wie in London ein Podest jederzeit zum Reden einladen.

Allerdings scheinen sich die Berliner an ihre neuen Ausdrucksmöglichkeiten erst noch gewöhnen zu müssen: Ursprünglich war der erste Redewettbewerb mit 50 Teilnehmern geplant. Doch trotz der verhaltenen Beteiligung zeigt sich Lüder zufrieden. "Ich bin gespannt, wie sich der Speakers Corner entwickelt, und werde gelegentlich herkommen und schauen, ob jemand die Möglichkeit nutzt." Und auch wenn offensichtlich nicht alle Zuschauer wegen der Reden gekommen sind - manch einer trinkt gemütlich Bier und genießt im Liegestuhl die letzten Sonnenstrahlen des Tages -, machen Zwischenapplaus und Jubelrufe während einiger Ansprachendeutlich: Die Begeisterung für das neue Projekt ist da.

Das zeigt sich auch bei Robin Spaetlings Rede in der Finalrunde. Von der Marathonerzählung kommt er zu Spendengeldern, dem Kampf um Rechte für Menschen verschiedener sexueller Identitäten und einer eigenen Initiative, den Teamfundraising e. V. Er sammelt für Amnesty International, möchte 600 Euro zusammenkriegen, wirbt in seiner Rede für diese Aktion.

Und verlässt als Gewinner die Bühne. "Das gibt mir wirklich zu denken. Ich hätte nicht damit gerechnet, hier als Sieger vom Platz zu gehen." Bevor er auf die Bühne ging, habe er große Angst gehabt. "Ich fühle mich gar nicht als Redner. Vielleicht sollte ich das aber überdenken", sagt er und lacht. Spaetling ist glücklich, denn er hat alle überzeugt - ganz ohne Striptease.

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