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Spagat in der Zeit

Ziemlich weißer Dub: Die deutschen Minimalrocker Neu! reizten in den Siebzigern die glücklichen Momente der leer laufenden Ekstase für sich aus. Jetzt wird ihr Werk wieder editiert und entdeckt

von HARALD FRICKE

Manchmal bekommt Klaus Dinger merkwürdige Post. Zum Beispiel von Hubertus von Hörsten, der 1999 für Spiegel-Online wissen wollte, warum er einen Expo-Jingle geschrieben hat, wenn in seinen Stücken statt Natur doch die „Autobahn“ und „Radioaktivität“ besungen werde. Pech für von Hörsten: Dinger hatte Kraftwerk schon 1971 verlassen.

Der Briefwechsel findet sich auf der Homepage www.gawl.de/Dingerland, zu der man sich von Herbert Grönemeyers www.groenland.com durchklicken kann. Grönemeyer hat gerade die drei ersten Platten der Band Neu! auf CD wiederveröffentlicht, für die Dinger bei Kraftwerk den Hut nahm, und sein japanisches Banjo und die Trommelstöcke gleich mit. Schon im Dezember 1971 erschien die von ihm und dem Gitarristen Michael Rother in vier Tagen eingespielte LP „Neu!“. Ein Jahr später folgte „Neu 2!“ und schließlich „Neu! 75“ – allesamt stilbildend für den deutschen Elektronikminimalismus und doch weit gehend vergessen. Dass die Platten bislang nur als Raritäten erhältlich waren, lag an Vertragsstreitigkeiten: Rother und Dinger stehen auf Kriegsfuß, es geht um die Namensrechte nach dem Split 1975. Außerdem hält Dinger seinen Exkompagnon nur für einen braven Musikarbeiter, während er selbst sich mit an die tausend Trips zum Pop-Op-Guru hochpsychedelisiert hat.

Fans für den irrlichternden Maschinen-Sound der beiden Düsseldorfer Architektur- und Psychologiestudenten gibt es genug: David Bowie, Brian Eno oder Blur-Sänger Damon Albarn zählen dazu. Immer wieder ist, wenn von Neu! gesprochen wird, von „elektrischen Autos der Zukunft“ und vom Musik gewordenen „Über-Es“ die Rede – erstaunlich, zumal es bei Neu! zu Beginn keine Synthesizer, keine Beatboxen, nicht einmal Farfisa-Orgeln gab. Im Gegenteil: Rother und Dinger waren Puristen, die sich auf die klare Opposition aus Rhythmus und Gitarrenmelodie begrenzten. Manchmal ein Feedback, aber nur alle paar Minuten, man hatte ja Zeit: „Hallogallo“, das Eröffnungsstück des Debüts, dauert so an die zehn Minuten.

Wahrscheinlich gehört gerade das zu den Kennzeichen, die den deutschen Kraut- und Experimentalrock der frühen Siebziger für die britische Popszene so frisch und aufregend machen. Die Kluft zwischen den sparsamen technischen Mitteln und der Weite der erzeugten Klänge findet sich im Punk ebenso wieder wie bei Ravebands. Nicht von ungefähr hat Julian Cope nach seiner New-Wave-Jugend ein Buch über Can und Co. geschrieben – obwohl sich Neu! auch mit deren ausuferndem Improvisationsgedaddel nicht identifizieren mochten.

Tatsächlich waren Neu! anders als der Hippie-Underground, aber auch weit weg von den starren Romantikpattern von Kraftwerk. Die ständig sich wiederholenden Rhythmusmuster, mit denen Dinger stoisch hantiert, passen eher zu ritualer Trommelmusik oder eben zu den viel später aufkommenden Disco-Maschinen bis hin zu House.

Neu! klingen wie ein Spagat in der Zeit: Eben noch afrikanische Stammesfeier, danach abgehacktes Gitarrenspiel für die Industrialboheme, und zuletzt ein Hauch von Liederbuchfolk, der damals eine hübsch regredierende Kinderladenatmosphäre auf Open-Air-Konzerte brachte. Man kann schon nach wenigen Takten hemmungslos mitsummen, ohne Sinn. Das war, drogenkonsumtechnisch gesehen, ein ziemlicher Fortschritt.

Natürlich wurde dieses Konzept über drei Platten hinweg enorm verfeinert. Irgendwann hat Dinger sogar den Schalter am Aufnahmegerät gefunden, mit dem die Stücke auf halber oder doppelter Geschwindigkeit abgespielt werden können. Das Ergebnis: ziemlich weißer Dub. Bei „Hallo Excentrico!“ auf „Neu 2!“ schleifen die Spuren wie ein nervös eiernder Plattenspieler. Der Non-Sense-Avantgardismus passt zu der Monotonie, mit der im Grunde immer nur der eine Dinger-Beat variiert wird – als Parodie auf den seriellen Charakter. Wie viel Freude in der leicht verpeilten Wiederholung liegt, weiß man spätestens seit Techno. Dinger und Rother haben die glücklichen Momente der leer laufenden Ekstase schon für sich ausgereizt, als die Rockmusik sich noch mit schwerer Symbolik für den Mainstream wappnete. Lauter Nichts – das war Neu!

„Neu!“, „Neu 2!“ und „Neu! 75“ sind auf Grönland/EMI erschienen

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