■ Spätlese: Anmut
Aber ja, das wissen wir ja: daß die Liebe eine Himmelsmacht ist, die auf Erden wirkt, die alles verändert und neu und frisch und ungeahnt färbt, die nicht nur neue Welten eröffnet, sondern die alte auch einmal um sich selber dreht, so daß alles auf seinem Platz steht und doch verrückt erscheint et cetera pp., das alles wissen wir, aber wer kann das heutzutage noch beschreiben, ohne daß es uns peinlich ist oder ihm peinlich sein müßte? Bohumil Hrabal kann das, und zwar unter einem Titel, der in aller Zartheit und vorsichtiger Ironie zur Kenntnis gibt, daß er weiß, was er da tut: „Hochzeiten im Hause/Ein Mädchenroman“.
Pipsi ist ein enttäuschtes und ein wenig spätes Mädchen aus ehemals bester Familie; ihr Verlobter hat sie sitzenlassen, und nun steckt sie im Prag der Nachkriegszeit in jenem Kreislauf fest, den fast alle Metropolen des zwanzigsten Jahrhunderts einmal eingerichtet haben: ohne Arbeit keine Wohnung, ohne Wohnung keine Arbeit. Sie kellnert ein bißchen, im ersten Hotel am Platze, und nun macht sie sich auf, alte Freunde zu besuchen, bei denen sie offiziell Aufenthalt nehmen will. Bei diesem (übrigens erfolglosen) Versuch, ihr Leben in Ordnung zu bringen, lernt sie „den Doktor“ kennen: einen Wunderling, der allzeit zufrieden ist, Schmalzbrote ißt und sich genügsam der Sonne des Lebens im Hinterhof freut, der am Rande der Arbeitsgesellschaft eine Existenz führt, die zugleich hell und opak, lyrisch und nüchtern zu sein scheint. Und Pipsi, deren Herz nach der beinahe verwundenen Enttäuschung leer und aufgeräumt ist wie ein verlassenes Zimmer, erlebt in aller Bescheidenheit den Austausch aller ihrer Zellen: „Und ich schritt dahin und war glücklich, nicht etwa, weil neben mir der Doktor ging, sondern weil ich endlich wieder um mich schaute, weil ich sah, wie die Menschen lebten, die vielleicht in der gleichen Lage waren wie ich, die auch einmal Betriebe, Restaurants und Fabriken besessen hatten, die wohlhabend waren, sich aber irgendwie damit abgefunden hatten und den Sonntag feierten, als sei nichts geschehen, doch sah ich, der Großteil der jungen Männer und Frauen mußte so arbeiten, wie ich es tat, jeder hatte aber irgendein Ziel, einen Ort, wohin er gehen konnte, sie wußten solch einen Sonntag wie ich als ein Geschenk zu schätzen, ein kleines Geschenk, und ich wünschte mir in diesem Augenblick nichts anderes, als jeden Sonntag einfach so spazieren und baden zu gehen, der Doktor hielt eine aufgerollte Luftmatratze unterm Arm, ich trug meinen Badeanzug und wußte nicht, wo wir schwimmen würden, alles lag vor mir wie eine Überraschung... In dieser kurzen Zeitspanne vor Mittag, als wir so ausschritten, wechselten wir kein Wort, wir schauten nur, und der Doktor war glücklich, daß ich das betrachtete, was auch er sah, und ich war glücklich, daß ich zusammen mit diesem Menschen ging...“ Das Glück braucht viele Worte oder ist verschwiegen, weil die Umwertung allen Lebens entweder gar nicht oder eben nur in allen Einzelheiten beschrieben werden kann, denn jede Zusammenfassung ist ja schon eine Phrase. Also beschreibt Hrabal das Glück mit vielen Worten, einschließlich jener Hoffnung auf Verstetigung, die auch das junge Paar als einzige beschäftigt: „Wir werden immer so bleiben, wie wir sind, du kannst all das tun und lassen, was du bisher gemacht hast, ich gehe weiterhin arbeiten, du wirst mir weiterhin zur Straßenbahn entgegenkommen, wenn ich Spätschicht habe...“ Und so wird, nach den vielen „Hochzeiten im Hause“, die der menschenfreundliche Doktor für andere schon ausgerichtet hat, nun auch seine eigene gefeiert; ein fröhlicher Taumel ins Glück, das nicht anders gedacht werden kann denn als die Wiederkehr des Immergleichen. Damit endet der erste Band.
Und damit könnte ja alles schließen, wäre die Erzählerin nicht eine Frau, deren Wahrhaftigkeit nicht zuläßt, die Fortsetzung zu verschweigen... Und so entspricht diese schon formal der Rücksichtslosigkeit, mit welcher das Schicksal nun waltet – einer undramatischen, aber gleichwohl gründlichen Rücksichtslosigkeit –, bei der die Entzauberung des Ganzen vom heiteren Menuett des ersten Teils zu einer sarkastischen Rhapsodie werden muß, interpunktions- und gliederungslos, allein der Wirklichkeit verpflichtet: und die ist traurig genug.
Hier soll nicht alles verraten werden. Es sei nur der Hinweis gegeben, daß, wer (wie die Rezensentin) immer schon den Verdacht in seinem Busen nährte, daß es mit der narzißtischen Heiligsprechung der Prager Moderne, dem kulturellen Aufbruch der männlichen Revolutionäre, der erotisch-kreativen Atmosphäre à la Kundera et al nicht ganz seine Richtigkeit haben könne, daß dort etwas Entscheidendes vergessen worden sei, was sich aus der Entfernung aber nur schwer benennen ließe – daß der oder die hier aufs schönste, anschaulichste und heiterste bestätigt wird. Der doppelte Mädchenroman „Hochzeiten im Hause“ vermählt Erkenntnis mit der Freude daran, und dies entschädigt sogar dafür, daß die wirkliche Vermählung mit wachsender Erkenntnis bedauert werden muß. Hrabal ist so etwas ganz Seltenes gelungen, und seine Übersetzerin Susanna Roth hat sein Werk im Deutschen zum Leuchten gebracht: Es ist ein Wunder an Anmut.
Bohumil Hrabal: „Hochzeiten im Hause/Ein Mädchenroman“. Aus dem Tschechischen von Susanna Roth, Suhrkamp Verlag, gebunden, 455 Seiten, 48 DM.
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