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Spacig: Realsozialistische Utopie als Märchen auf Video

Die Vokabel „Identität“ ist in dieser Redaktion leider verboten. Nun gut, bezeichne man das, womit kryptisch benamte Versandhandel („Cadillac“) ihre Taler verdienen, eben als „populäres sozialistisches Kulturgut“. Was hier trendgerecht revivalt wird, gehört, den Unterhaltungs- und sogenannten Lehrwert betreffend, zum Übelsten nicht: Märchenfilme und Comics („Die Digedags“) aus dem Ex-Osten.

Wie damals ein Märchen – trotz Verpöntheit des „Theaters der Illusionen“ – funktionieren konnte, kann man aus dem kuriosen Auftakt ersehen, mit dem Cadillac sein Programm präsentiert. Die Defa-Produktion „Das singende, klingende Bäumchen“ wurde 1957, und das ist nicht ohne Bedeutung, „nach Motiven“ der Gebrüder Grimm abgedreht. Schon die Kulissen sind es wert, diesen Film zu würdigen: Er kann einfach nicht teuer gewesen sein. Dekoration wird zur Dekoration, Pappmaché logisch zum Pappmaché verfremdet. Die Handlung: Es war einmal, natürlich, ein schöner Prinz, der durch malkünstlerisch pflaumenblaue Nächte und „Electric-Body- Music“-Sonnenaufgänge einer schönen, aber hochmütigen Prinzessin entgegenreitet, um selbige unverdientermaßen zu freien. Die Prinzessin fordert vom Prinzen als Preis für ihr Gesicht des Jahres „das singende, klingende Bäumchen“, das von allem Unglück erlösen soll. Bis ans Ende der Welt, welches an einem Märchentag zu erreichen ist, eilt der Trottel dafür. Das Bäumchen singt und klingt aber nur, wenn die Prinzessin den Prinzen wahrhaft liebt.

Der schöne Prinz (die Vorstellungen haben sich da inzwischen ein bißchen geändert), der böse Zwerg, der greise König und die hochmütige Prinzessin entsprechen ihrer Typologie nach Gestalten aus Lehrstücken, die in einem farblich spacigen Ambiente nicht etwa nur agieren, sondern regelrecht demonstrieren. Die Schauspieler zeigen, daß und was sie spielen. Für den Ausdruck „Weinen“ gießt man sich Wasser ins Gesicht. Bertolt Brecht goes Gebrüder Grimm, und das nicht wenig.

Der Wert der Dinge liegt einmal mehr hinter ihrem äußeren Schein verborgen; die Geschichte der Prinzessin dient im volkstümlichen Realismus der Erziehung zu Bescheidenheit, Mitleid und vor allem Arbeit. Liebe stellt sich da wie von selbst über eine solchermaßen konstituierte Gemeinschaft her. Die ob ihres hoheitlichen Hochmuts verwunschene Prinzessin verdient sich mit jeder Arbeit und gleichermaßen guten Tat einen Teil ihres schönen Make-ups zurück und erlöst via bestandenem Manöver „Neuer Mensch“ auch gleich den in einen Kuschelbären verwunschenen Prinzen mit.

Fragen der Zeit in „künstlerischer Überhöhung und Verschlüsselung“ also, die „völlig entfaltete Persönlichkeit“ als wahrgewordenes Märchen – wenn diese Ehe zwischen Surrealismus und V-Effekt nicht das Porto wert ist, dann existiert wohl keine Attraktivität des Wunderbaren mehr. Anke Westphal

Das besprochene Märchen und ein Katalog über weitere ebenso wundersame Märchen, Comics, CDs bei: Cadillac Kultur- Versand, Bahnhofstr. 55, 17207 Röbel

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