piwik no script img

Soziologin über Dicksein„Körperkontrolle ist am wichtigsten“

Schlank zu sein heißt Selbstkontrolle: Essen wird stark moralisiert, findet die Soziologin Eva Bärlösius am Anti-Diät-Tag. Schon Kinder würden Süßigkeiten als Sünde empfinden.

Körperfülle mit Selbstbewusstsein. Bild: dpa
Barbara Dribbusch
Interview von Barbara Dribbusch

taz: Frau Barlösius, manche Menschen sagen heute halb scherzhaft, halb ernsthaft, sie hätten „gesündigt“, wenn sie ein Tortenstück gegessen haben. Wird Fett und Süßes heute moralisch so verurteilt wie früher Sex?

Eva Barlösius: Das Essen ist heute das Lebensgebiet, auf dem die strengsten Standards, die stärksten Normierungen gesetzt werden. Ich nenne das die „Moralisierung“ des Essens. Wir haben Interviews gemacht mit sechs-, siebenjährigen Kindern, die schon präsent haben, dass, wenn sie Süßigkeiten essen, dies eine Form der Sünde sei. Die erklären uns, man sollte eigentlich Obst, Gemüse und Schwarzbrot essen. Die Kinder lernen, das Essen nicht mehr als etwas Selbstverständliches und Natürliches zu begreifen, sondern als etwas, über das ich permanent zu reflektieren habe.

Das verdirbt doch den Spaß am Essen, auch an gemeinsamen Mahlzeiten.

Essen ist eine Möglichkeit, Gemeinschaft, Feste zu erleben. In türkischen Familien zum Beispiel ist das Essen und das Nötigen zum Essen ein Zeichen gegenseitiger kultureller Wertschätzung. Wer viel anbietet, wer die Tafel voll stellt, ist eine gute Mutter, eine gute Gastgeberin. Wer viel isst, zeigt Wertschätzung – und gerät damit aber in Konflikt mit gesamtgesellschaftlichen Normen, die eine Kontrolle des Essens vorschreiben. Gerade Mütter übergewichtiger und adipöser Kinder stehen in einem Rollenkonflikt, denn sie wollen ihre Kinder gut versorgen, sollen aber gleichzeitig auch über deren Gewicht wachen.

Für viele Leute gehört es zum Lebensstil, Diäten zu machen. Ist das der Wunsch, die Kontrolle über den eigenen Körper zu haben?

Bild: privat
Im Interview: EVA BÄRLÖSIUS

ist Professorin für Makrosoziologe an der Universität Hannover und Autorin des Buches „Soziologie des Essens. Eine sozial- und kulturwissenschaftliche Einführung in die Ernährungsforschung“.

Wir wissen aus Studien, dass junge Frauen sagen, wenn sie ihren Körper kontrollieren, dann hätten sie das Gefühl, auch ihr Leben im Griff zu haben. Das wird ihnen aber so beigebracht, das ist eine gesellschaftliche Interpretation. Nicht in allen Gesellschaften ist Schlanksein ein Zeichen dafür, dass ich mein Leben unter Kontrolle habe. Geld zu besitzen, sich zu bilden, dass könnte genauso als Zeichen von Selbstwirksamkeit gelten. Aber bei uns zählt inzwischen die Kontrolle über den Körper beinahe mehr als alles andere.

Stehen Jungs dabei unter dem gleichen Stress wie Mädchen?

Das gleicht sich zwischen den Geschlechtern an. Allerdings erklären dickliche männliche Jugendliche manchmal, dass sich ihr Körper in einem Übergangsstadium befinde und sich das Körperfett später noch in Muskeln verwandeln würde. Diese Möglichkeit der Selbstinterpretation haben junge Mädchen nicht. Aber im Prinzip leiden dickliche Jungs genauso.

Waren Dicke früher genauso stigmatisiert wie heute?

Diese Normierung des Körpers, der Anspruch, bis ins hohe Alter schlank, fit und sportlich zu sein, das hat es früher so nicht gegeben. Was in den 50er Jahren noch als schlank durchging, gilt heutzutage schon mehr oder weniger als mollig oder füllig.

Alte Menschen haben ja im Allgemeinen ein höheres Gewicht. Verändern sich diese Normen nicht, wenn wir gleichzeitig immer älter werden?

Ich glaube eher nicht, denn in der Gesellschaft gilt ein schlanker Körper als Zeichen von Jugendlichkeit. Außerdem wird Übergewicht und Adipositas mit sozial benachteiligten Schichten in Verbindung gebracht. Solange sich die Klassen und Schichten ausdifferenzieren, werden die Stigmatisierungen der Dicken bleiben.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

8 Kommentare

 / 
  • D
    donnerblitz

    @ Unglaublich:

    "Vor einem Jahrhundert wurden dicke Menschen, deren Akzeptanz jetzt - öffentlich gefördert? - gefordert wird, im Zirkus ausgestellt.

    Weil sie so selten zu sehen waren.

    Sonst hätte ja keiner dafür bezahlt, sie anschauen zu dürfen."

    Ach ja? Noch nie einen der vielen Berichte über den "dicksten Menschen der Welt" (in irgendeinem südamerikanischen Land) gesehen? Der wird sogar im Fernsehen ausgestellt!! Und Dicke sind bei uns ja so selten zu sehen, oder wie war das? Und bezahlt wird wie üblich mit Zuschauerquote, also vonwegen kein Interesse, weil es heute nichts besonderes sei!? Und niveaumäßig oft noch weit unter "Bauer sucht Frau" werden "Dicke" in jeglicher nur denkbaren Form dem Unterschichtenfernsehen vorgeführt.

    Ich weiß ja nicht, ob ich Ihren Worten entnehmen soll, dass Ihnen das doch eigentlich gefallen müßte? Es ist jedenfalls das Gegenteil von Akzeptanz, sondern mal derbe, mal subtilere Hetze.

     

    Und kulturgeschichtlich brauchen Sie dringend Nachhilfe: je nach Ort und Zeit auf dieser Welt genossen Dicke großes Ansehen(und z.T. heute noch), da sie für "Wohlstand" standen und so sogar dem jeweilige Schönheitsideal entsprachen!

     

    Übrigens: an dem "dicksten Mann der Welt" haben sich (vor laufender Kamera) die "besten Adipositas-Experten der Welt" versucht. Und was haben sie erreicht? Dasselbe wie bei den meisten anderen: der arme Mann hat immer wieder unglaubliche Kilos abgenommen, nur um etliche Zeit später immer noch mehr zu wiegen als zuvor. Und genau das nennt man Jojo-Effekt. Aber macht ja nix, dann kann sich doch wieder der nächste "Experte" beweisen.

     

    Und jetzt verlangen Sie mal nicht nur immer von den Dicken was, sondern denken selbst mal nach:

     

    "Gerade mal fünf Prozent aller Menschen, die bei einer Diät abgenommen haben, halten das neue Gewicht länger als zwei Jahre.

     

    Und je mehr Diäten ausprobiert wurden, desto schlechter sind die Aussichten auf Erfolg."

     

    http://www.welt.de/vermischtes/article106263061/Esst-doch-endlich-wieder-ganz-normal.html

     

    Und die heutzutage empfohlene generelle Nahrungsumstellung mit Sport bringt: genau dieses selbe Ergebnis.

    Sind jetzt 95% von mehr als der Hälfte der Bevölkerung einfach alles "faule Freßsäcke", wie es ein anderer Kommentator auszudrücken beliebte? Oder spielen eben doch noch "gewichtige" andere Faktoren eine Rolle als nur Essen und Bewegung?

    Nicht umsonst sagen kritische Wissenschaftler, dass diejenigen, die behaupten, es läge nur an Ernährung und Bewegung und damit vollkommen in der Hand der Betroffenen, abzunehmen - sollten sich doch für den Nobelpreis bewerben. Falls man dort aber noch einen Anspruch damit verbindet, werden die Bewerber beweisen(!) müssen, dass ihre Behauptungen nicht nur von kurzfristiger Vergänglichkeit erleuchtet, sondern von langfristigem und damit nachhaltigem Nutzen sind.

  • U
    Unglaublich

    Unglaublich, was diese Gesellschaft sich leistet.

    Vor einem Jahrhundert wurden dicke Menschen, deren Akzeptanz jetzt - öffentlich gefördert? - gefordert wird, im Zirkus ausgestellt.

    Weil sie so selten zu sehen waren.

    Sonst hätte ja keiner dafür bezahlt, sie anschauen zu dürfen.

    Statt alle Hebel in Bewegung zu setzten, die Ursachen der Fettsuchtepidemie zu ergründen und sie zu bekämpfen, soll die Gesellschaft jetzt dafür bezahlten, sie zu akzeptieren.

    Cui bono? Steckt - wieder einmal - die Lebensmittelindustrie dahinter?

  • RK
    Religiöse Konstruktion von Nahrung

    *... Das Essen ist heute das Lebensgebiet, auf dem die strengsten Standards, die stärksten Normierungen gesetzt werden. Ich nenne das die „Moralisierung“ des Essens. Wir haben Interviews gemacht mit sechs-, siebenjährigen Kindern, die schon präsent haben, dass, wenn sie Süßigkeiten essen, dies eine Form der Sünde sei. ...*

     

    Halt die zeitgemäße Form einer totalitären Religion ...

     

    Und deren Eiferer, die durch Verzicht (~ "Disziplin") ihrem "Gott" ein Opfer erbringen, stören sich natürlich an den vermeintlich gottlosen Charaktereigenschaften der Übergewichtigen, die da wären: Gula (Völlerei und Gefrässigkeit), Luxuria (Ausschweifung und Genusssucht) und Acedia (Faulheit). Das sind nicht nur zufällig drei der sieben Todsünden, und ebensowenig zufällig ist z.B. das Fasten vor Ostern und in der Adventszeit (hat etwas mit dem "Hungerhaken" Jesus zu tun ...)!

     

    Es ist jedenfalls immer wieder erstaunlich, welchen Einfluss diese religiöse UNkultur auch heute noch auf unser Denken und Werten ausübt! Sie verbirgt sich halt nur - strukturell tief verwurzelt - hinter scheinbar unreligiösen Alltäglichkeiten.

  • M
    m-black

    liebe taz

    was war denn das für ein journalistischer tiefpunkt? frau professor bringt hochbrisante thesen (die ich persönlich äusserst schwachsinnig finde, aber hier könnte eine interessante diskussion stattfinden) - aber ein rückfragen findet nicht statt:

    - was ist mit den individuellen, aber auch sozialen kosten, die (starkes) übergewicht mit sich bringt, in form von krankheiten, rückenschäden etc.

    - ein stück selbstgebackener kuchen ist bestimmt nicht schädlich, aber was ist mit den zucker-chemie-keulen der lebensmittelindustrie?

    - was ist mit dem thema "masshalten"? viele adipöse kinder leiden darunter, kein sättigungsgefühl mehr zu empfinden?

    ich lese die taz normalerweise sehr gerne, aber das war quatsch, sorry!

    liebe grüsse

    marc

  • HH
    Helga Horz

    Extrem einseitig und geradezu blind für die Realität diese Dame. Einfach zu behaupten "Essen wäre etwas Natürliches" und völlig zu ignorieren, dass Essen heute eben nichts mehr mit Natürlichkeit zu tun hat, sondern meist nur noch Industrieware aus dem Chemiebaukasten von Food-Designern ist oder voll von künstlichen Aromen und Geschmacksverstärkern, übersalzen, überzuckert usw. zeugt nicht gerade davon, dass die Frau weiß, wovon sie spricht - sondern eher, dass es sich hier um eine bezahlte Lobbyistin handelt!

     

    Wenn Hersteller versuchen, Kinder über bestimmte Inhaltsstoffe nach bestimmten Nahrungsmitteln oder Süßigkeiten regelrecht süchtig machen, kann man eben nicht einfach sagen "Kind iß doch was du willst und so viel dir schmeckt". Das ist schlicht und einfach ignorant und dumm!

     

    Ganz nebenbei bemerkt: Alle heute erhältlichen Süßigkeiten sind zu 100 Prozent künstlich. Die Natur hat Zucker- und Kalorienbomben in dieser Art und Menge nicht für uns vorgesehen - insbesondere nicht, wenn wir anstatt jeden Tag 15 Kilometer zu laufen um Nahrung zu finden, jetzt nur noch vor dem Fernseher gammeln!

  • H
    horst

    So ein mist, wirklich.

     

    da gibt es doch echt eine Professorin!!!! die über Übergewicht redet ohne über Bewegung zu sprechen.

     

    Natürlich sind wir fetter als in den 50ern. Sogar Kinder sind heutzutage oft so fett dass man Mitleid haben muss.

     

    Natürlich muss man ihnen beibringen, dass "Kinder"-Artikel von Ferrero Mist sind, genauso wie blaugrüne Lutscher die in zentnerweise Plastik verpackt sind. Wenn ich ihnen das nicht frühestmöglich beibringe ist es schon bald zu spät, dann werden sie nämlich von Werbung zugemüllt. (Ich habe übrigens gar nichts gegen selbstgemachte Sahnetorte, aber die gibts halt nicht jeden Tag wie Snickers oder Mars)

     

    Und die Bewegung? Ist für Ernährungswissenschaftler oder Soziologen anscheinend zu unwichtig... Sport hat ja auch gar keinen Einfluss aufs Gewicht, gell?

     

    Von wem wird die Dame bezahlt? Von Nestle oder CocaCola?

  • VH
    Volker H

    Die Nationen mit der meisten Eßkultur haben die wenigsten Übergewichtigen.

    Daraus würde ich folgern es müsste was an Esskultur getatn werden

  • JA
    Jakob A.

    Vielleicht sollte sich Frau Barlösius mal Gedanken darüber machen, WIESO es zu so einem Wandel gekommen ist.

    In Gesellschaften, in denen Essen knapp ist, kann es natürlich ein Zeichen von Wohlstand sein, wenn man viel Nahrung verteilen oder zu sich nehmen kann.

    Aber in einer Gesellschaft, in der ein totaler Nahrungsmittelüberschuss existiert (was in der Natur ursprünglich so gut wie nie vorgekommen ist, weswegen es da auch nicht wirklich natürliche Regulierungsmethoden gibt) ist es unumgänglich, dass man sich in Disziplin übt.

    Natürlich darf man das auch nicht ins Gegenteil verkehren und Essen vollkommen tabuisieren, es handelt sich halt um etwas Nicht-lineares. Letzten Endes darf man aber auch nicht vergessen, dass für unser Essen Lebewesen sterben müssen, Tiere wie Pflanzen.