: Sozialstaat
Was ist eigentlich Marktwirtschaft (4. Teil) ■ 1*1 der Marktwirtschaft
In der Marktwirtschaft ist auch die menschliche Arbeitskraft eine Ware, deren Preis sich auf dem Markt bildet. Konjunkturelle Schwankungen oder Strukturänderungen schlagen sich unmittelbar auf dem Arbeitsmarkt nieder und beeinflussen die Arbeitslosenrate und die Lohnentwicklung. Der Staat kann mit verschiedenen sozial- und wirtschaftspolitischen Instrumenten versuchen, die negativen Folgen dieser Marktschwankungen zu lindern, oder direkt steuernd in die Marktprozesse einzugreifen.
Um die Lohnabhängigen vor den Schwankungen des Arbeitsmarktes zu schützen, und sie nicht dem Schicksal einer gewöhnlichen Ware preiszugeben, muß ein Netz allgemeiner Sozialversicherungen aufgebaut werden: Kranken-, Invaliden-, Arbeitslosen-, Rentenversicherung. Außerdem kann der Staat mit einer Reihe konjunktur- und strukturpolitischer Instrumente versuchen, konjunkturelle Einbrüche oder Strukturkrisen zu mildern. Schließlich bedarf es staatlicher Gesetze, um die Arbeitnehmer vor allzu grober Willkür von seiten der Unternehmer zu schützen.
Diese Kombination von wirtschaftspolitischer Globalsteuerung (Konjunktur-, Strukturpolitik, etc.), schützender Gesetzgebung und sozialer Sicherung ist gemeint, wenn von sozialer Marktwirtschaft die Rede ist. Umstritten ist, inwieweit auch Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit oder Chancengleichheit dazugehören.
Nach dem 2. Weltkrieg hat sich die soziale Marktwirtschaft als Modell oder Vorbild in der „westlichen“ Welt weitgehend durchgesetzt. Die Konzeption des („Nachtwächter„-)Staates, der nur die ordnungspolitischen Rahmenbedingungen setzt, ohne direkt wirtschafts- und sozialpolitisch einzugreifen, galt als überholt. Dennoch ist die soziale Marktwirtschaft für den größten Teil der Menschheit bis heute ein Traum geblieben. Das hat mehrere Gründe.
Der Sozialstaat kostet Geld. In Krisenzeiten, wenn sich die finanziellen Spielräume verengen, wird auch der Kampf um die „sozialen Standards“ härter. Der Abbau sozialstaatlicher Funktionen kann von den Gewerkschaften dann oft nicht mehr verhindert werden (siehe z.B. Großbritannien). Denn auch wenn es ein gesamtgesellschaftliches Interesse an einer „sozial verträglichen“ Marktwirtschaft gibt, müssen die sozialstaatlichen Leistungen in der Regel gegen die Interessen der Unternehmer durchgesetzt werden. Sie versuchen, ihre Kosten in Form von Steuern und Sozialabgaben möglichst gering zu halten.
Die soziale Marktwirtschaft ist insofern kein allgemeingültiges Modell, das nur angewandt werden muß. Sie ist ein historisches Produkt sozialer Bewegungen, vor allem der Gewerkschaften, und an bestimmte gesellschaftliche Bedingungen geknüpft: einem hohen Anteil von Lohnabhängigen, die gesellschaftliche Veränderungen in ihrem Sinne durchsetzen können; eine wirtschaftliche Situation, die nicht dauerhaft durch Krise und Dauerarbeitslosigkeit geprägt ist; finanzielle Spielräume, um deren Verteilung gekämpft werden kann. Wo solche Bedingungen fehlen, bleibt die Marktwirtschaft eine schöne Illusion.
Gabriela Simon
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