Sozialpolitik in Argentinien: Auf dem Rücken der Bedürftigen

Der libertäre Präsident Argentiniens organisiert das System der Armenhilfe neu und setzt auf umstrittene Partner. Darunter leiden die Bedürftigen.

Eine Person trägt ein totes Tier auf dem Rücken.

Wer kann sich das noch leisten? Bei einem Fleischer in Buenos Aires im April 2024 Foto: Rodrigo Abd/ap

BUENOS AIRES taz | Werden sich Argentiniens Präsident Javier Milei und Bundeskanzler Olaf Scholz am Sonntag in Berlin tatsächlich die Hand geben? Der Empfang mit militärischen Ehren und die gemeinsame Pressekonferenz sind bereits abgesagt worden, „ausdrücklich auf Wunsch des argentinischen Präsidenten“, so der deutsche Regierungssprecher Steffen Hebestreit.

Dabei könnte sich der libertäre Ökonom Milei mit dem ehemaligen sozialdemokratischen Finanzminister Scholz intensiv darüber austauschen, wie man die schwarze Null im Haushalt am besten erreicht. Mileis brutale Sparpolitik liefert einen aktuellen Anlass. Dazu gehört die Revision der Sozialausgaben – und das in einem Land, in dem bald 60 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben.

„Das Brot gehört uns“, sagte der Vorsitzende der argentinischen Bischofskonferenz, Bischof Oscar Ojea, am vergangenen Mittwoch bei einem Gottesdienst in Ciudad Evita, einem Armenviertel am Rande der Hauptstadt Buenos Aires. Der Bischof kritisierte, dass die Regierung die Lebensmittelverteilung eingestellt hatte und forderte einen „nationalen Ernährungsplan“.

Der Gottesdienst war auch eine Hommage an diejenigen Frauen, die während der Coronavirus-Pandemie mit ihren meist kleinen Gemeinschaftsküchen Hunderttausende von Menschen versorgt haben. Wer eine solche Küche gründen und von der Regierung Unterstützung erhalten wollte, konnte sich online im Registro Nacional de Comedores y Merenderos (ReNaCom) registrieren lassen.

Armut rasant angestiegen

In diesem Register sind heute bis zu 44.000 Volksküchen eingetragen, von denen allerdings ein Großteil nicht mehr existiert. Die Regierung nutzte dies medienwirksam: Tagelang beherrschten registrierte, aber nicht mehr existierende Armenküchen, die angeblich weiterhin mit Lebensmitteln versorgt wurden, die Schlagzeilen.

Als der libertäre Präsident Javier Milei im Dezember 2023 sein Amt antrat, lebten 42 Prozent in Armut, 12 Prozent davon in extremer Armut. Das geht aus Daten der nationalen Statistikbehörde Indec hervor. Nach Schätzungen der Katholischen Universität von Buenos Aires ist die Prozentzahl der Menschen, die in Armut leben, inzwischen auf 58 Prozent angestiegen, davon 17,5 Prozent in extremer Armut. In absoluten Zahlen leben damit 24,9 Millionen Menschen in Armut, 7,8 Millionen in extremer.

Niemand bestreitet die prekäre Lage, auch nicht Präsident Milei. Dessen erklärtes Ziel ist es, das System der Armenhilfe neu zu organisieren. Sozial- und Nahrungsmittel sollen direkt an die Bedürftigen gehen – und nicht mehr über die sozialen Basisorganisationen und kirchlichen Einrichtungen, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten für die Weitergabe der staatlichen Unterstützung zuständig waren. Seine Begründung: Es sei nötig, den bisherigen Verteilungsprozess zu evaluieren und angebliche Korruption einzudämmen.

Die Verteilung von Nudeln, Reis, Speiseöl und anderen nicht verderblichen Lebensmitteln an die Suppenküchen setzte er aus. Stattdessen hat die Regierung nun die finanzielle Unterstützung für Kinder (AUH) und Lebensmittel (Tarjeta Alimentar), die über personalisierte Debitkarten vergeben werden, deutlich erhöht. Wer eine dieser Debitkarten besitzt, bekommt die Unterstützungssumme monatlich überwiesen und kann damit einkaufen.

Strafanzeige gegen Ministerin

Doch die Versorgungslücke, die durch die Einstellung der Lebensmittellieferungen entstanden ist, hat die Regierung schlicht unterschätzt, auch weil längst nicht alle der darauf angewiesenen Menschen eine solche Debitkarte besitzen, vor allem nicht die Älteren unter ihnen.

Bereits am 5. Februar erstattete Juan Grabois von der Unión de los Trabajadores y Trabajadoras de la Economía Popular, einem Zusammenschluss informeller Arbeiter*innen, Strafanzeige gegen die für Sozialpolitik zuständige Ministerin Sandra Pettovello. Der Vorwurf lautete „Verletzung der Amtspflicht“ angesichts der Nichtauslieferung von Grundnahrungsmitteln. Richtig Fahrt nahm der Fall Ende Mai auf: De­mons­tran­t*in­nen zogen vor ein staatliches Lagerhaus in Buenos Aires und beschuldigten die Regierung, dort 6.000 Tonnen Lebensmittel zu horten.

Während die Regierung sich damit rechtfertigte, dass es sich um Vorräte für den Katastrophenfall handele und nur ein sehr geringer Teil das Haltbarkeitsdatum erreicht habe, kamen immer mehr Details ans Licht. Zum Beispiel, dass bei 300 Tonnen Milchpulver das Haltbarkeitsdatum in wenigen Wochen ablaufen würde. Schließlich lenkte die Ministerin Pettovello ein und beauftragte die Armee, das Milchpulver sofort abzutransportieren und der Stiftung für Kinderernährung CONIN zu übergeben.

Allerdings: CONIN ist eine Stiftung für Kinderernährung, deren ultrakonservativer Vorsitzender Abel Albino Mitglied in der erzkonservativen, geheimbündlerischen Organisation Opus Dei ist. Mit CONIN unterzeichnete die Ministerin im Februar ein Abkommen über den Kauf von Lebensmitteln für ihre Suppenküchen.

Regierung setzt auf fundamentalistische Bewegungen

Kurz zuvor hatte sie sich außerdem mit der Christlichen Allianz der Evangelischen Kirchen der Argentinischen Republik (ACIERA) geeinigt, einem Zusammenschluss von evangelikalen Fundamentalisten: Die Ministerin sagte ihnen eine erste Zahlung von umgerechnet rund 190.000 Euro für den Kauf von Lebensmitteln für ihre über 700 Volksküchen zu.

Ob die Ministerin ihre Zusagen eingehalten hat, ist nicht klar. Fest steht jedoch, dass sich die Regierung auf zwei fundamentalistische religiöse Bewegungen stützt, die in Argentinien bei der Versorgung der Armen mit dem Vatikan konkurrieren.

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