Sozialforscherin Jutta Allmendiger: "Unsere Schule ist definitiv ungerecht"
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin im Interview zu den internationalen Schul-Vergleichsstudien und ihren auf die Gesellschaft gerichteten Gerechtigkeitsbegriff.
taz: Frau Allmendinger, ist der Pisa-Schock überwunden?
Jutta Allmendinger: Für mich ist es irrelevant, ob deutsche Schüler auf Platz 10 oder 20 oder 15 liegen. Was mich schockiert hat, ist in keiner Weise überwunden. Es hat sich das wiederholt, was wir seit 2000 bei den Pisa-Studien gesehen haben: dass wir eines der schlechtesten Länder von allen sind, was Ungleichheit betrifft.
Die Schule ist also ungerecht?
Unser Schulsystem ist definitiv ungerecht. Kinder, die bildungsarm aufwachsen, bleiben auch bildungsarm. Der Kompetenzzuwachs in Gymnasien ist viel größer als in Hauptschulen. Man könnte sagen: Die jungen Leute dort werden hilflos gemacht, abgehängt, nicht durch ihre Anlagen, sondern durch staatliches Versagen.
Was ist die größere Ungerechtigkeit: Die Chancenungleichheit, die man aus der Schule mitbringt, oder die Tatsache, dass Menschen heute von 347 Euro Hartz IV im Monat leben müssen?
Die Chancenungleichheit in der Schule. Dass man die eigenen Potenziale, die man hat, nicht entwickeln kann. Die Schule vergibt Chancen, die über das ganze Leben hinweg wirken. Man sieht, dass diejenigen, die Hartz IV beziehen, hauptsächlich jene sind, denen diese Chancen erst gar nicht gegeben wurden und aus der Sozialhilfe ganz schlecht wieder herausfinden, weil ihnen die erforderliche Bildung und die Qualifikationen fehlen.
Bleiben wir beim Thema Gerechtigkeit. Die Verlängerung des Arbeitslosengeldes I für Ältere: Ist das gerecht?
Nein.
Warum nicht?
JUTTA ALLMENDINGER, 51, leitet das größte Sozialforschungsinstitut Europas, das Wissenschaftszentrum Berlin, WZB. Zuvor war Allmendinger Präsidentin des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg, das ist die Forschungsabteilung der Bundesagentur für Arbeit. Ziel Allmendingers ist es, die Auswirkungen von Bildung auf Arbeitslosigkeit und Armut zu untersuchen. "Von der Wiege bis zur Bahre" sollen die Folgen von Bildungsarmut erforscht werden - was in einem neu gegründeten großen Forschungsverbund geschehen soll, dem Bildungspanel.
Deutsche Schüler haben bei Pisa 2006 sehr unterschiedliche Ergebnisse errungen. In den Naturwissenschaften sind sie erstmals über dem Durchschnitt der OECD-Staaten gelandet. In Deutsch und Mathematik aber kommen die 15-Jährigen kaum voran. Die Schüler steigern die Mittelwerte so gering, dass sie laut OECD "statistisch nicht signifikant sind". Spitzenreiter bleiben deutsche Schulen bei der sozialen Selektion: Nirgendwo unter den 57 Staaten gehen die Leistungen so weit auseinander. Besonders Kinder aus sozial schwachen Haushalten und Migranten werden benachteiligt. Zuwandererkinder der zweiten Generation liegen um 93 Punkte hinter ihren herkunftsdeutschen Klassenkameraden - der höchste Wert innerhalb der OECD.
Die Arbeitslosenversicherung ist eine Risikoversicherung. Wie eine Haftpflichtversicherung oder die Krankenversicherung. Wenn die Risiken eintreten, sollten die Personen gleich behandelt werden. Egal, wie lange sie eingezahlt haben. Ich habe keinen individuellen Gerechtigkeitsbegriff, der in die Richtung geht: Je länger ich in die Krankenkasse einzahle, desto besser ist der Chirurg, der mich behandelt. Ich habe einen auf die Gesellschaft gerichteten Gerechtigkeitsbegriff. Alle legen zusammen - um im Notfall Einzelnen helfen zu können.
Warum empfindet dann die Mehrheit der Deutschen die Verlängerung des Arbeitslosengeldes als gerecht?
In der Bevölkerung ist über die Jahre hinweg eine Vorstellung entstanden, dass die Sozialsysteme eine Sparbüchse sind. Ich zahle ein, und je länger ich eingezahlt habe, desto mehr bekomme ich heraus.
Im Gegenteil empfinden die Menschen das Bildungssystem nicht als ungerecht. Wie erklären Sie sich das?
Das hat damit zu tun, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der sich die einzelnen Schichten stark abschotten. Hartz-IV-Bezieher leben zwischen anderen Hartz-IV-Beziehern. Das hat auch etwas mit der Ghettoisierung der Städte zu tun, die diese Segregation verstärkt. Das hat zur Folge, dass sich die Leute nur noch untereinander vergleichen. Irgendwann denken sie, ja, es ist gerecht, dass mein Kind die Hauptschule besucht.
Sie fahren Ihre eigenen Erwartungen herunter?
Viele wissen gar nicht erst, wo das eigene Kind eigentlich hätte hinkommen können. Man hat nicht mehr den Blick über den eigenen Tellerrand, über das eigene soziale Milieu hinaus. Leider sind nicht nur den Menschen auf dieser Ebene die Ergebnisse aus der Bildungsforschung überhaupt nicht bekannt. Deswegen bin ich eine so große Anhängerin der Pisa-Studien. Weil sie uns einen ganz anderen Blick auf das eigene Land erlauben.
Ein Kultusminister der Union hat bereits gesagt, jetzt reicht es mit Pisa.
Eine fatale Entwicklung! Uns würde der Vergleich verlorengehen, dass man Kinder zu guten Leistungen führen kann, selbst wenn in ihren Elternhäusern Bildung ein Fremdwort war. Pisa zeigt uns Staaten, die es sehr gut schaffen, große Anteile eines jeweiligen Jahrgangs zu ähnlichen Bildungsergebnissen zu führen. In Deutschland schafft es kein einziges Bundesland, hohe Chancengleichheit unabhängig von der Herkunft zu erzeugen.
Sie haben bereits vor Pisa den Begriff der Bildungsarmut in die Diskussion gebracht. Jetzt, sechs Jahre nach Pisa, beginnt er, ins allgemeine Bewusstsein zu rücken. Macht Sie das eigentlich stolz?
Ich empfinde das eher als eine Niederlage. Wenn man sich anschaut, wie lange diese Ergebnisse über die soziale Selektivität in Deutschland vorliegen und wie lange man nichts dagegen unternommen hat, kann man eher verzweifeln. Wie viele Generationen man dadurch in die Arbeitslosigkeit entlassen hat! An der Schule hat sich wenig verändert. Sie ist kein Chancenverbesserungssystem, sondern eher ein Chancenverschlechterungssystem.
Wie sieht die Antwort aus? Die Hauptschulen abschaffen?
Es geht nicht darum, dass man jetzt das Gymnasium oder die Realschule oder die Hauptschule abschafft. Die Zauberformel heißt, mit der Heterogenität umzugehen, also eine Gemeinschaftsschule zu entwickeln, die durch individuelles Fördern aus der Kreativität verschiedener Schüler etwas zu machen versteht. Das ist für mich gerecht im Vergleich zu drei unterschiedlichen Schulformen, die Schüler in gute und schlechte Lernmilieus sortieren.
Wenn Sie 50 Milliarden Euro zur Verfügung hätten, wo würden Sie diese investieren: bei den Rentnern, den Arbeitslosen, den Studenten, den Schülern oder den Kleinkindern? Oder bei allen gleichmäßig?
Auf gar keinen Fall überall. Ich würde einen großen Teil in die Frühbildung stecken.
Und dann die Kitas und Kindergärten kostenlos machen?
Ich verstehe nicht, warum hier die Gebühren nicht zumindest viel stärker am Bedarf orientiert sind. Reiche können ruhig für Kitas und Kindergärten zahlen.
Und der Rest der 50 Milliarden?
Bildung und Weiterbildung. Man kann das Geld nicht nur in die Frühbildung stecken, weil dann die Menschen, die heute 40 Jahre alt sind und schlichtweg keine Weiterbildung bekommen, in zehn Jahren auf der Straße stehen. Das ist ein Feld, das im Vergleich zu seiner Wichtigkeit unterbelichtet ist.
Inwiefern?
Wir machen uns bisher noch gar nicht klar, welche wesentlich geringeren Halbwertzeiten etwa die neuen Bachelor-Studiengänge haben im Vergleich zu den alten Diplomstudiengängen.
Was ist die Konsequenz?
Lebenslanges Lernen muss im Grunde heißen, im Verlauf des Lebens ganz viele Bachelors abzulegen. Das Wissen und damit die Anforderungen an Jobs verändern sich immer schneller. Wir brauchen in Zukunft viel häufiger als früher Umschulungen, auch wenn dieser Begriff negativ besetzt ist. Hier würde ich das Geld hineinstecken. Aber bestimmt nicht in eine längere Finanzierung von Arbeitslosigkeit. Das ist weder ein präventiver Sozialstaat noch ein reparierender, das ist ein Stillhaltesozialstaat.
Muss ein vorsorgender Sozialstaat, der Bildung in den Mittelpunkt stellt, notwendigerweise auf Kosten des nachsorgenden gehen?
Wir investieren ja zurzeit fast alles in die Nachsorge. In einen Sozialstaat, der versucht, die Kinder aus dem Brunnen zu fischen, in den er sie hat fallen lassen. Schauen Sie sich doch mal an, wie die Mittel vergeben werden. In die Eliteuniversitäten werden jetzt über fünf Jahre 1,9 Milliarden hineingegeben. Die Verlängerung des Arbeitslosengeldes I kostet das Doppelte. Aber da regt sich keiner darüber auf.
Als Wissenschaftlerin ist Ihre Aufgabe die nüchterne Analyse. Wofür würden Sie auf die Barrikaden gehen?
Man kann viel besser auf die Barrikaden gehen, wenn man gute Wissenschaft im Rücken hat. Nur dann kann man Veränderungen bewirken, auch wenn es manchmal Ewigkeiten dauert. Ich streite für meine Überzeugungen.
Wofür konkret?
Gegen Chancenungleichheit. Für Ganztagsschulen. Oder gegen das jetzige dreigliedrige Schulsystem. Die Frage ist, wie man in den Schulen eine Dynamik hinbekommt, wie wir sie bei den Universitäten durch den Elitewettbewerb beobachten. 1,9 Milliarden Euro sind eigentlich Pipifax. Aber sie haben eine enorme Dynamik in die verkrusteten Universitäten hineingebracht. Auch die Wirtschaft beteiligt sich jetzt. So etwas brauchen wir auch unten im Bildungssystem - um die Ungleichheit dort zu bekämpfen, wo sie beginnt.
INTERVIEW: CHRISTIAN FÜLLER UND WOLF SCHMIDT
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