Soziale Not im Westjordanland: 10 Euro Schulgeld sind schon zu viel
Die Armut unter den Palästinensern nimmt zu. Viele können die Miete nicht zahlen. Dafür wird die Führung in Ramallah verantwortlich gemacht.
RAMALLAH taz | Wer zu Mahmud Abbas will, muss kräftig an die Tür klopfen. Der Namensvetter des Palästinenserpräsidenten entschuldigt sich, weil er die Klingel abgestellt hat. „Meine Kinder drücken aus Spaß auf den Knopf, das vergeudet Strom“, erklärt der 51-Jährige und knipst das Licht an. Die Palästinenser zahlen ihren Strom per Prepaid-Karte, und das Guthaben von Abbas schmilzt.
Im Westjordanland wächst die soziale Not. 60 Prozent der Menschen empfinden nach einer Untersuchung des Palästinensischen Zentrums für Politik- und Umfragenforschung ihre Lage als „schlecht“ oder „sehr schlecht“.
Zum ersten Mal seit der politischen Spaltung zwischen dem Gazastreifen und dem Westjordanland halten die Palästinenser die Lebensbedingungen im Gazastreifen für besser als im Westjordanland. Schuld daran seien Präsident Mahmud Abbas und Regierungschef Salam Fajad.
Von den Ersparnissen der Familie Abbas ist nichts mehr übrig. „Wir haben die Hälfte unserer Möbel verkauft“, sagt der Vater von fünf Kindern.
Umgerechnet kaum 400 Euro blieben ihm nach dem Verkauf von einem Esstisch mit zwölf Stühlen, Computer und Kleiderschrank. Hosen und Hemden liegen aufgestapelt auf dem Boden im Schlafzimmer der Eltern.
Kein Geld für die Schule
Weil Abbas das Schulgeld für zwei Söhne nicht aufbringen konnte, schickten die Lehrer seine beiden Jungen nach Hause. 10 Euro sind es jährlich für jedes Kind.
„Wer macht so etwas, Kinder von der Schule zu schicken?“ Erst nachdem er beim Erziehungsministerium vorsprach, durften die beiden Jungen wieder in ihre Klasse.
Die Familie von Mahmud Abbas mag extrem von der maroden Wirtschaftslage im Westjordanland betroffen sein, dennoch ist sie längst kein Einzelfall.
Immer öfter ziehen die Leute auf die Straße, um ihrem Unmut Luft zu machen. Auf Plakaten fordern Demonstranten den Rücktritt von Regierungschef Fajad und die Aufkündigung der Abkommen mit Israel.
Spenden bleiben aus
Die Autonomieverwaltung ist pleite, weil Spendengelder ausbleiben. Für eine Weile schien es zu boomen im Westjordanland. Die ausländischen Gelder flossen in den Verwaltungsapparat und den Bau neuer Häuser und Straßen, nicht jedoch in eine langfristig Arbeitsplätze garantierende Industrie.
Für die wirtschaftliche Entwicklung katastrophal sind außerdem die während der frühen 90er Jahre zwischen der Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) und Israel unterzeichneten Abkommen, die die Palästinenser an die israelischen Zölle und Mehrwertsteuer binden.
Wenn in Tel Aviv die Benzinpreise steigen, müssen auch die Autofahrer in Ramallah tiefer in die Tasche greifen, während sich die Hamas im Gazastreifen um die Verträge nicht schert und billiges Benzin steuerfrei aus Ägypten bezieht.
Sprit ist in Gaza billiger
In Gaza kostet ein Liter umgerechnet 40 Cent, im Westjordanland 1,60 Euro. „Taxi“ hat ein Zyniker auf ein Schild geschrieben und einem Esel in Ramallah umgehängt.
Mahmud Abbas und seiner Familie ging es nicht immer so schlecht. Der finanzielle Abstieg begann, als der selbstständige Bauunternehmer seinen Bulldozer verlor. „Ich war der einzige Palästinenser, der die von der israelischen Armee zugeschütteten Straßen freigeräumt hat“, sagt er stolz.
Sein Beitrag zur Zweiten Intifada, dem blutigen Aufstand vor zehn Jahren, kostete ihn seine Arbeit. Die Soldaten konfiszierten den Schaufelbagger. Er bekam ihn zwar zurück, aber so beschädigt, dass er kaum noch zu reparieren war.
Nur zwei kleine Gurken
Die Regierung müsse für den Schaden aufkommen, solange werde er weiter demonstrieren, kündigt Abbas an. „Ich bin kein Dieb und kein Bettler“, sagt er verzweifelt und zeigt auf die leeren Regale in seinem Kühlschrank. Zwei kleine Gurken liegen dort. Sonst nichts.
„Wir trinken Wasser und essen Brot.“ Er wolle keine Almosen, sondern sein Recht. Seit zwei Monaten kann er die Miete nicht mehr aufbringen und schämt sich dafür, denn die Hauseigentümerin ist verwitwet und braucht das Geld selbst dringend für sich und ihre Kinder.
„Palästina ist eine Zweiklassengesellschaft“, murrt Abbas. „Unsere Führung baut Villen und kauft neue Autos, und wir hier unten können schreien, so viel wir wollen, es hört uns doch keiner.“
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
„Edgy sein“ im Wahlkampf
Wenn eine Wahl als Tanz am Abgrund verkauft wird
Denkwürdige Sicherheitskonferenz
Europa braucht jetzt Alternativen zu den USA
Überraschung bei U18-Wahl
Die Linke ist stärkste Kraft
RTL Quadrell
Klimakrise? War da was?
Absturz der Kryptowährung $LIBRA
Argentiniens Präsident Milei lässt Kryptowährung crashen
Ukraine-Verhandlungen in Saudi-Arabien
Wege und Irrwege aus München