Sowjetunion light: Erbe auf Weißrussisch
Die Kleinstadt Njaswi lebt von ihrer polnisch- litauisch-russischen Vergangenheit
"Unsere Partisanen haben die Stadt verteidigt, 21 Stunden lang, gegen die deutschen Faschisten", erzählt die Lehrerin. Ihre Stimme klingt wie ein Donnerschlag in der Idylle des Schlossparks von Njaswiþ, einer Kleinstadt im Westen Weißrusslands. "Warum erzählen Sie das immer noch", wendet sich ein kleiner, hagerer Mann auf Weißrussisch an die Lehrerin. "Sie verbreiten die Mythen, die uns von der Sowjetunion diktiert worden sind. Erzählen Sie lieber von der Bedeutung des Schlosses und davon, dass Belarus auch mal zu Europa gehörte."
Auf einem Hügel hinter dieser Szenerie erhebt sich das Schloss von Njaswiþ, ein feister Renaissancebau aus dem 16. Jahrhundert. Damals gehörte dieser Teil des heutigen Weißrusslands zum mittelalterlichen Polen-Litauen. Njaswiþ war die Residenz der einflussreichen Magnatenfamilie Radziwill, die auch die "ungekrönten Könige Polens" genannt wurden. Vor allem Nikolai Radziwill machte aus der Residenz ein Zentrum europäischer Renaissance- und Reformationskultur. Heute ist das Schloss ein Erholungsheim für Bauern. Die gelblichen Mauern bröckeln an vielen Stellen.
Auf die nationale Geschichte gibt der belarussische Präsident Aljaksandr Lukaschenka nicht viel. Die junge Republik Belarus ist ein autoritäres Präsidialregime, in dem Lukaschenka seit 1996 eine Art "Sowjetunion light" errichtet hat. Nur einmal weckte das Schloss das Interesse des Diktators. Quellen berichten seit dem 17. Jahrhundert von einem sagenhaften Schatz, den die Familie Radziwill hier gehortet haben soll, darunter Statuen der zwölf Apostel - aus Gold und Silber, besetzt mit wertvollen Edelsteinen. Lukaschenkas Suchtrupp fand das "weißrussische Bernsteinzimmer", wie man den Schatz schon mal nennt, bislang genauso wenig wie die vielen ausländischen Nachforscher.
Njaswiþ ist mittlerweile eine der Hauptattraktionen Weißrusslands. Das Schloss mit seinem malerischen See, der Jesuitenkirche, dem Bernhardinerkloster und seinen Kulturfestivals zieht im Sommer tausende von Touristen an. Heute ist das Schloss eines der wenigen erhaltenen historischen Denkmäler der jungen Republik, die in ihrer Geschichte von Schweden, Polen, Franzosen, Deutschen und auch der Roten Armee verwüstet und geplündert wurde. Njaswiþ, das 1583 das Magdeburger Stadtrecht erhielt, war mal polnisch-litauisch, russisch, polnisch und dann sowjetisch.
Nicht weit von Njaswiþ steht zudem das gewaltige Schloss von Mir, ein Bau aus Ziegelsteinen aus dem 15. Jahrhundert, der heute zum Unesco-Welterbe gehört. Neue Straßenlaternen und eine neue Asphaltierung künden von einer neuen Zeit.
Nicht viel weiter erhebt sich die einstige Hauptstadt des Großfürstentums Litauen auf einem Hügel: Navahrudak mit seinen barocken oder klassizistischen Häuschen in engen Gassen - übrigens die Geburtsstadt des polnischen Nationaldichters Adam Mickiewicz (1798-1855) - wurde in den vergangenen zehn Jahren zum touristischen Städtchen ausgebaut.
In seinem berühmtesten Werk, "Pan Tadeusz", beschreibt Mickiewicz seine weißrussische Heimat mit den Worten "Litwo, ojczyzno moja - Litauen mein Vaterland". Er selbst entstammte dem polnisch-litauischen Kleinadel, der szlachta, der Polnisch sprach und schrieb, da sich das Großfürstentum Litauen erstmals 1385 mit Polen vereinigt hatte und die polnische Kultur langsam die Kultur des Adels wurde. Die polnisch-litauische Vereinigung wurde mit der Hochzeit zwischen der polnischen Thronerbin Jadwiga und dem litauischen Großfürsten Jagiello in Krewo besiegelt.
Krewo ist heute ein unbedeutendes, armes Dorf, das vor allem von alten Menschen bewohnt wird, die ihr ganzes Leben in der Kolchose geschuftet haben. Wie Maria. Sie ist 85. Ihr Mann hat sich zu Tode getrunken und geraucht. Ihre Kinder sind wie alle jungen Menschen schon vor langer Zeit "in die große Stadt" gezogen - nach Minsk, dorthin wo sie noch nie war. Sie steht auf der Hauptstraße. "Wie ist das Leben in Krewo?" "Ach", seufzt sie. "Welches Leben? Wir haben schlecht gelebt, wir werden schlecht sterben." Das sagt sie auf Weißrussisch, der dritten ostslawischen Sprache neben Ukrainisch und Russisch, die von Russen bis heute gern als lächerlicher Bauerndialekt abgetan wird. Weißrussisch war aber in den Anfängen des Großfürstentums Litauen die offizielle Schriftsprache und wurde nur von Bauern gesprochen, die sich als Einwohner Polen-Litauens litwiny oder einfach "Hiesige" nannten. In den Städten, die an wichtigen Handelsstraßen zwischen Westen und Osten lagen, wurde Jiddisch, Polnisch, Weißrussisch, Russisch oder auch Deutsch gesprochen.
Das heutige westliche Weißrussland entdeckt seine Geschichte und Vielfalt wieder. Juden aus aller Welt reisen nach Westweißrussland, um die Heimat ihrer Vorfahren zu sehen. Katholische Kirchen erstrahlen dank Polen in frischen Farben und bringen so selbst die grauen Holzhäuser in den tristen Dorflandschaften zum Leuchten. Orthodoxe Kirchen schießen vielerorts aus dem Boden. Und alle zwei Jahre treffen sich in Navahrudak bei einem Ritterfestival hunderte von Freizeitrittern aus Deutschland, Schweden, Litauen, Weißrussland oder Polen, um gemeinsam historische Schlachten zu schlagen. Rund 200 Mittelaltervereine gibt es.
Auch in Njaswiþ, in der malerischen Kulisse vor dem See, über dem der gelbe Schlossbau mit seinen vielen Türmchen aufragt, schlagen sich die Ritter im Sommer zum Spaß. "Da verdoppelt sich auch hier die Einwohnerzahl. Überall sind dann Autos und Menschen, und es ist so, als käme die große Geschichte zurück in unsere kleine Stadt", sagt Katarina Schischgina-Potozkaja.
Die pensionierte Lehrerin steht Tag für Tag vor dem Schlosseingang. Dort verkauft sie ihre dünnen Bücher über "die Legenden von Njaswiþ". Sie findet, dass Weißrussland eine spannende Geschichte habe, die noch entdeckt werden müsse. "Es gibt ja nicht mehr viel hier ", setzt sie fort. "Aber solche Städte sind ein Juwel. Und wer glaubt, Europa ende an der neuen EU-Grenze, der sollte mal hierher kommen."
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