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Soviel Demo war noch nie

In Bremerhaven gehen 20.000 für den Erhalt der Werften auf die Straße. Polizei, Händler und Gewerkschaften protestieren gemeinsam  ■ Aus Bremerhaven Joachim Fahrun

Um fünf vor zwölf läuten die Glocken in Bremerhaven. Mehr als zwanzigtausend Menschen haben sich vor der Großen Kirche im Zentrum der Stadt versammelt. Ganze Firmenbelegschaften sind trotz der Kälte angetreten. Ämter, Läden und Bankfilialen sind geschlossen, die Schüler haben unterrichtsfrei.

Arbeitgeberverband und Handelskammer haben gemeinsam mit den Gewerkschaften zur Kundgebung zur Rettung der Werften aufgerufen. Auch diejenigen der hundertzwanzigtausend Einwohner Bremerhavens, die nicht dabei sein können, zeigen sich solidarisch. „Wir hätten ein Schild an die Tür nageln und schließen sollen“, sagt Rolf von Helmst, Kassierer im Deutschen Schiffahrtsmuseum. Siebzig Kollegen sind bei der Demo, er selbst schiebt Notwache. Vor seiner Anstellung im Museum war er selbst fünf Jahre lang Werftarbeiter. Ohne Schiffbau fehlt dem Museum irgendwie der Bezug zur Realität, findet Helmst.

Die Arbeiter der Schichau-Seebeckwerft waren um 10.30 Uhr von ihrer Werft am Fischereihafen Richtung Stadtmitte losgezogen. Zurückgeblieben ist Wolfgang Kurre. Er kontrolliert die Wagen der hinausfahrenden Lieferanten. Schließlich hat Schichau am Mittwoch wie die Muttergesellschaft Vulkan-Verbund Vergleich angemeldet. Da wisse man nie, ob nicht Leute Material herausschaffen wollten, sagt Kurre. „Im Oktober wollte ich mein 25jähriges Betriebsjubiläum bei Schichau feiern“, sagt der hochgewachsene 57jährige traurig. „Ob ich das noch schaffe, weiß ich nicht“. Die Werft hat im vergangenen Jahr 145 Millionen Mark Verlust eingefahren. Sie gilt unter den drei Werften im Lande Bremen als erster Kandidat für eine Schließung.

Vor der Großen Kirche hat die Polizei Großeinsatz. „Das ist super“, kommentiert ein Ordnungshüter die Massendemo. Hinter ihm erklären sich fünfzig Lastwagenfahrer hupend mit den Werftarbeitern solidarisch. Noch nie habe es in Bremerhaven eine so große Demonstration gegeben, meint ein Polizist im Einsatz. „Aber noch nie drohte der Stadt auch ein solches Fiasko“, fügt er nachdenklich hinzu.

Auch die Chefin des noblen Hotels Naber bangt um den Standort Bremerhaven. Ihre livrierten Angestellten servieren den vorbeiziehenden Menschen heißen Tee. Die 24jährige Schuhverkäuferin Wiebke Fischer faßt die Sorgen der jüngeren BremerhavenerInnen zusammen: „Wenn die Werften plattgemacht werden, ist hier tote Hose. Dann bleiben nur Rentner, Arbeitslose und alleinerziehende Mütter übrig.“

Der Menschenauflauf vor der Großen Kirche sei „beeindruckend“, sagt Oberbürgermeister Werner Richter (FDP) auf den Stufen des Gotteshauses. „Transparente runter“, fordert ein Mann am Mikrofon, „wir sind live im Fernsehen, und man kann die Redner und die Massen nicht sehen.“ Richter fordert besonders die Arbeiter der mecklenburgischen Vulkan-Werften auf, zu ihren Kollegen an der Unterweser zu stehen. „Wir haben ja die Investitionen im Osten auch mit unseren Steuergeldern mitfinanziert“, ruft der Bürgermeister. Bei einer Arbeitslosigkeit von schon jetzt fast 20 Prozent in Bremerhaven sei das kein Ost- West-Problem. „Auch hier ist Mecklenburg“.

Der Landrat des umliegenden Kreises Cuxhaven, Martin Döscher, beschwört auf Plattdeutsch die Einheit von „Stadt und Land, Hand in Hand“. Es sei falsch, die EU zu beschimpfen, weil sie in den Westen fehlgeleitete Subventionen zurückfordert. „Wer die EU belogen und betrogen hat, sollte schweigen“, sagt der Landrat mit einem deutlichen Seitenhieb auf Ex-Vulkan-Chef Hennemann, dem viele die Verantwortung für das Vulkan-Desaster geben. Hennemann hatte bei der Kundgebung sprechen wollen. „Der Mann muß doch völlig den Sinn für Realität verloren haben“, wettert Martin Döscher und erntet lautstarken Beifall.

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