■ Soundcheck: Tocotronic
Gehört: Tocotronic. Da retten sich junge Menschen in die Musik, um den Idioten auf dem Schulhof zu entkommen, und wenn sie dann Popstars sind, stehen diese Idioten vor der Bühne und applaudieren. Eigentlich ist das ein Dilemma. Aber nicht für Tocotronic, die verzweifelte Lieder schreiben, um ausgeglichene Menschen sein zu können. Die geben alles von sich preis, ohne sich dabei selbst preiszugeben. Das klingt alles sehr intim, was sie da über Cousins, Schwestern oder Eltern erzählen, und trotzdem weiß niemand was Genaues.
Mit Tagebuchaufzeichnungen haben ihre Lieder nämlich nichts zu tun, das rückt Schlagzeuger Arne Zenk zurecht, der am Anfang drei Lieder solo auf der Gitarre vorträgt. Überhaupt rückt er eine Menge zurecht, unter anderem auch, daß es wirklich eine Unsitte sei, bei Konzerten rhythmisch mitzuklatschen: „So kann ich nicht arbeiten.“
Tocotronic rocken mit Leich-tigkeit große Hallen, achten aber darauf, daß ihnen niemand auf die Pelle rückt. In der schon seit Wochen ausverkauften Großen Freiheit halten die Hamburger höflich Distanz und ganz wichtig: Sie bestimmen die Dynamik. Über 100 Minuten dauert ihr Auftritt, die eine oder andere Länge scheint die Band dabei gerne in Kauf zu nehmen. Das kühlt die überhitzten Gemüter ab, und Tocotronic selbst können sich einer neu entdeckten Spielfreude hingeben. Sehr schön. Schon weil so genügend Energien gesammelt werden können, um ihre Einminüter herausschreien zu können – von „Drei Schritt vom Abgrund entfernt“bis „Gehen die Leute“.
Wünsche erfüllen die drei nicht, höchstens ihre eigenen. Weshalb sie dann unaufgefordert ein paar Minuten nach Ende des Konzerts noch einmal vor der halbgeleerten Halle erscheinen, um ihr „Nach Bahrenfeld im Bus“zu spielen. Tocotronic verbeugen sich zwar gerne wie nach einer geglückten Theateraufführung – der Applaus scheint ihnen trotzdem nicht so wichtig zu sein. Christian Buß/Foto: jms
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen