: „Sonst stürmen die uns die Stadt“
■ Um in Brindisi einzulaufen, riskieren die Besatzungen albanischer Kriegsschiffe sogar Unfälle. Italiens Behörden sind total überfordert
Der Schrecken sitzt Oberstleutnant De Paolis sechs Stunden nach der Beinahekatastrophe noch in den Gliedern. Mitten in der Nacht hatten Boote der apulischen Küstenwache wieder einmal Schiffe aus Albanien gemeldet, die in großer Zahl herandümpelten; einige davon waren auch diesmal wieder militärischer Herkunft. Das Aufklärungsboot von Kommandant De Paolis hatte sich dem größten Kriegsschiff genähert – und war gerade noch rechtzeitig gekommen, um eine Kollision zu verhindern, weil „gleich mehrere Fischkutter auf die Fregatte F 304 zusteuerten“.
Das Kriegsschiff, eine schon ziemlich betagte Fregatte russischer Bauart, lag ruhig, aber völlig unbeleuchtet da. Die Besatzung hatte in der Dunkelheit gemeint, man sei längst in der Hafenzone Brindisis angelangt, hatte die Lichter gelöscht und die Radarschirme ausgeschaltet; man wollte sich bei Morgengrauen melden. Als sich die Küstenwache per Lautsprecher und Blinkfeuer bemerkbar machte, ging zwar noch immer kein Licht an, doch das Kriegsschiff begann urplötzlich loszufahren. Als dann die ersten herbeigerufenen Hubschrauber mit ihren Scheinwerfern das Deck beleuchteten, erschrak die Besatzung des Küstenschutzbootes fast noch mehr: „Auf dem Schiff drängten sich die Menschen derart, daß man jeden Augenblick damit rechnen mußte, daß Dutzende Personen über die Reling stürzen würden“, erzählt Oberstleutnant De Paolis.
858 Menschen zählten die Behörden schließlich, als man das Schiff endlich im Hafen hatte – noch immer unbeleuchtet, doch offenbar von einer Besatzung gelenkt, die nur das eine Ziel hatte: in Italien einzulaufen, koste es, was es wolle. „Und je verrückter sie sich benehmen, um so sicherer sind sie, daß wir sie nicht zurückschicken.“
Mehr als hundert Beinahezusammenstöße dieser Art hat Brindisis Hafenkommandant Giovanni Brisio in den letzten acht Tagen gezählt: „Es ist nur eine Frage der Zeit, vielleicht nur von Stunden, bis da einmal eine Katastrophe reinbricht.“ Zehn Tage alte Säuglinge waren auf der Fregatte, ein Mann von über 90, schwangere Frauen, einige Behinderte. „Von denen würden wir keinen rechtzeitig aus dem Wasser kriegen, wenn da was passiert“, sagt Brisio.
Doch auch an Land läuft mittlerweile einiges daneben. Mit maximal 4.000 bis 5.000 Flüchtlingen hatten die Behörden gerechnet – in der völlig irrigen Annahme, man werde die ankommenden Schiffe zwar nicht ins Krisengebiet zurückschicken, wohl aber in die nördlichen Regionen Albaniens umleiten, wo nach letzten Informationen keine Gefahr drohe. Jetzt überfordert die große Zahl gleichzeitig ankommender Flüchtlingsschiffe die Behörden ganz gewaltig: „Auch unter Einsatz aller uns zur Verfügung stehenden Abfangboote können wir nur einen Teil zum Abdrehen zwingen“, so eine Stellungnahme aus dem Marineministerium.
Mehr als tausend Flüchtlinge kommen nach offiziellen Zählungen derzeit pro Tag an, und wahrscheinlich werden weitaus mehr in der Nacht heimlich an Land gelotst. Die Aufnahmestellen – leere Lagerhallen, Polizeikasernen, Schulen und einige Campingplätze – sind bereits hoffnungslos überfüllt. Der Bürgermeister von Brindisi, Lorenzo Maggi, fordert denn auch, die Flüchtlinge noch außerhalb des Hafens auf italienische Schiffe umzuladen und in andere Regionen Italiens zu bringen – „sonst stürmen die uns noch die Stadt“.
Doch auch weiter nördlich ist kaum etwas vorbereitet. Italien verschanzt sich hinter der unklaren Einschätzung der Lage durch die „Organistation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (OSZE) und verspricht „schnelle humanitäre Hilfe, sobald die Dinge entschieden sind“.
Und so weigern sich denn auch die Regionalverwaltungen, Flüchtlinge aufzunehmen, solange nicht feststeht, wer dafür bezahlt und wie lange die Leute bleiben werden. In der Zwischenzeit, so Oberstleutnant De Paolis von der Küstenwache, „warten wir halt darauf, bis die ersten hundert ertrunken sind. Erst dann wird sich etwas bewegen.“ Werner Raith, Brindisi
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