: Sondierungen in Moskau
■ Kirijenko beginnt mit der Bildung einer neuen Regierung und wirbt um Vertrauen
Moskau (rtr) – Der neue geschäftsführende russische Ministerpräsident Sergej Kirijenko hat gestern mit der Regierungsbildung begonnen und im Parlament um Vertrauen geworben. Präsident Boris Jelzin machte deutlich, daß Verteidigungsminister Igor Sergejew und Außenminister Jewgeni Primakow im Amt bleiben sollen, gab Kirijenko aber ansonsten freie Hand in Personalfragen. Fraglich ist, ob der 35jährige Exenergieminister im Abgeordnetenhaus der Duma eine Mehrheit finden könnte. Jelzin warnte die Kammer vor Widerstand und deutete an, daß er die Duma dann auflösen und Neuwahlen ausschreiben würde.
Kirijenko traf an seinem ersten Tag im neuen Amt mit führenden Vertretern der beiden Parlamentskammern zusammen. Thema war die künftige Zusammenarbeit zwischen Regierung und Parlament, die in den vergangenen Jahren zumeist durch Streit blockiert worden war. Kirijenko dürfte auch die Chancen einer Bestätigung durch die Duma sondiert haben. Die Kammer wird von einer nationalistisch-kommunistischen Mehrheit dominiert, gegen deren Willen kein Regierungschef eingesetzt werden kann. Kirijenko ist nach Worten von Präsidentensprecher Sergej Jastrschembski der wahrscheinlichste Ministerpräsidentenkandidat Jelzins.
An die Duma gerichtet sagte Jastrschembski im Fernsehen, es wäre „nicht wünschenswert“, wenn die Kammer den Kandidaten dreimal zurückweisen und Jelzin das Abgeordnetenhaus auflösen müßte. Auf die Forderung der Kommunisten nach einer großen Koalition will Kirijenko nach Angaben eines führenden Mitglieds der Regierungspartei „Unser Haus Rußland“ aber nicht eingehen. Es solle kein Kabinett entsprechend der Duma-Mehrheiten geben, sagte Duma-Vizepräsident Wladimir Ryschkow.
Personalentscheidungen fielen bislang nicht. Jelzin hat Kirijenko dafür eine Woche Zeit gegeben. Kirijenko muß nach der Entlassung des Reformers Anatoli Tschubais den Posten mindestens eines Vize-Regierungschefs neu besetzen. In Moskau wurde spekuliert, daß auch der Liberalreformer Grigori Jawalinski für das Amt in Frage käme. Die Zukunft des zweiten stellvertretenden Ministerpräsidenten Boris Nemzow war weiterhin unklar. Im Lauf des Tage wollte Kirijenko auch seinen Vorgänger Viktor Tschernomyrdin treffen. Den hatte Jelzin am Montag überraschend entlassen. Damit wollte der gesundheitlich angeschlagene Präsident nach russischen Medienberichten Stärke demonstrieren und seine Chancen im Vorfeld der Parlaments- und Präsidentenwahl stärken.
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