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Somnamboulevard – Die Kette der Ereignisse Von Micky Remann

Ilse hatte in Hameln einen guten Bekannten mit schlechten Zähnen, der gern mit dem Mountainbike fuhr, aber ungern eine Panne hatte. Trotzdem sprang ihm bei einer Tour am Weserufer die Kette ab, und so machte er denn fluchend und seine schlechten Zähne fletschend halt. Über die nahe Eisenbahnbrücke fuhr gerade ein Eilzug, dort saß im Nichtraucherabteil ein Mann, der seiner Lila Pause lutschenden Tochter gerade eine Geschichte erzählte. Sie handelte von einem Mädchen, das vor langer Zeit Tag für Tag zum Ziehbrunnen des Dorfes ging, um einen Eimer Gold zu schöpfen. Nein, Wasser brauchte sie dort nicht zu holen, das kam aus der Leitung; aber der Brunnen war voll mit eitel Gold und manchmal auch mit Edelsteinen. Jeden Tag mußte sie die Kette, an der der Eimer hing, tiefer hinabrasseln lassen, um an die Schätze am Brunnengrund zu kommen, aber bisher hatte es noch nie einen Tag gegeben, an dem sich der Weg nicht gelohnt hätte. Sie trug eine wunderschöne Goldkette um den Hals, die ihr der Sohn des Bäckers aus dem Kaugummiautomaten gezogen hatte, um sie zu heiraten. Das Kaugummi hatte er für sich behalten, und da in diesem Dorf Kaugummi um vieles wertvoller war als Gold, nahm das Mädchen das Angebot nicht sonderlich ernst.

Die Mutter dieses Jungen war in ihrer Jugend bei einem Goldschmied in die Lehre gegangen, der, als er noch Geselle und vor verschiedenen Wirren auf der Flucht war, in ein Land und zu Leuten geriet, deren Sprache er kaum verstand. Am Ufer eines Flusses wollte er sich eines Tages übersetzen lassen. Der Fährmann ließ die Ankerkette hochrasseln und alle Mann „Ahoi“ rufen, aber dann fuhr das Schiff weder quer über den Fluß, noch floß es längs flußabwärts, sondern trieb verblüffenderweise flußaufwärts und kam erst bei der Quelle zum Stehen. Dort erschien ein Zauberer mit Hut und sagte, er sei ein Zauberer. Der Geselle verstand nur wenig und auch das meist falsch, hörte aber die Anweisung heraus, er solle darüber erst einmal träumen und im Traum das, was er nicht verstanden hatte, zu dem, was er verstanden hatte, hinzufügen, um anhand der gemeinsamen Quersumme alles verstehen zu können. Prompt streckte er sich auf einer molligen Moosbank aus, wo er so lange träumte, bis er träumte, er verstünde das, was er träumte. Dabei war ihm, als fände er im Briefkasten einen Stapel Kettenbriefe, in denen er gleichlautend aufgefordert wurde, einem ganz bestimmten Mädchen eine ganz bestimmte Goldkette zu schmieden. Das Design des Schmuckstückes hatte er glasklar vor Augen; also schnürte er seinen Ranzen und machte sich, ohne aufzuwachen, auf den Weg. Erst am Brunnen jenes Dorfes machte er halt und duschte sich mit einem Eimer Gold, erzählte der Vater seiner Tochter im Nichtraucherabteil des Eilzugs über die Weserbrücke.

Da legte das Mädchen die Lila Pause aus dem Mund, öffnete das Fenster und schmiß ihre schokoladenverschmierte Goldkette in hohem Bogen hinaus. Sie landete paßgenau auf den Zahnrädern des Mountainbikes von Ilses Bekannten, der ungemein froh war, daß über diese Kette von Ereignissen seine Panne glücklich behoben war.

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