: Somnamboulevard – Alter ego on the road Von Micky Remann
Fahr' ich doch mit meinem alten Traumcabriolet über die Autobahn, als mir mein Alter ego entgegenkommt. „Hallöchen, Alter ego“, sage ich und trete auf die Raumzeitbremse. „Wo kommst'n du her?“ „Aus der Zukunft“, antwortet der. Da fällt mir auf, daß er gar nicht so aussieht, wie ich denke, daß mein Alter ego aussehen müßte, sondern eher wie ein Wackelpeter im Spiegelkabinett.
„Die Zukunft, wie schön für dich“, sage ich mürrisch, „und was ist dabei für mich von Interesse?“
Der andere verzieht die Miene. „Um ehrlich zu sein“, sagt er, „wenn du sehen könntest, was ich gesehen habe, würdest du vermutlich einen Brandsatz in die Zukunft werfen wollen, um sie dir vom Leib zu halten.“ „Wieso?“ will ich wissen. „Nicht, weil das Ergebnis unsäglich wäre, sondern weil du dir dort fremd wie ein Flüchtling vorkämst. Du wüßtest nicht, wie aus dem, der du warst, der werden konnte, der du sein wirst, und schon gar nicht, wie du dahin gekommen bist.“
„Und deshalb würde ich Feuer legen?“
„Ja, weil dein Selbstbild humpelt. Weil die Angst, dich in deiner zukünftigen Fremdheit wiederzuerkennen, größer ist als die Angst, mit deiner alten Haut dagegen Sturm zu laufen – wenn auch vergeblich, denn die Zukunft sorgt von allein dafür, daß du dein Gegenwartsbild änderst. Schau dich doch an.“
In der Tat wirkt mein Future self ziemlich gelatinös, so sehr, daß ich einen unheimlichen Verdacht schöpfe. „Hey, Alter, du bist gar nicht mein ego“, sage ich, „du bist jemand anderes, ein Eindringling, ein Schwein, und willst mich aufs Kreuz legen!“
Ich komme mir für einen Moment ziemlich selbstsicher vor, fast mutig, aber nur solange ich nicht in den Spiegel schaue. Denn da entrollt sich in wüster Folge ein Panoptikum aus alten und jungen Gesichtern, häßlichen und liebenswerten, kraushaarigen, blonden und glatzköpfigen.
„Schwachsinn“, rufe ich in die Meute, „mir könnt ihr über mich nichts vormachen!“ Ich möchte Gas geben, um meine lästigen anderen loszuwerden, aber die halten mein Gesicht mit ihren fest. Mein altes Zukunftsego macht keine Anstalten, auf eine zufriedenstellende Weise so auszusehen wie ich.
„Nun, da wir gerade so schön beisammen sind“, spottet er, „wie wäre es, wenn wir mal kurz unsere Augen vertauschen würden – ich geh' in deine, du gehst in meine, nur ganz kurz. Na, wie wär's?“
Schwupp, ehe ich mich dagegen wehren kann, ist es auch schon geschehen, und mir wird übel wie auf der Achterbahn. Jetzt bin ich der, der gerade rückwärts aus der Zukunft kam, um meinem vergangenen motzigen Selbst, das ich eben noch war, auf der Autobahn zu begegnen. Mir fällt auf, daß dessen Augen dauernd in den Rückspiegel geschaut hatten, während sie meinten, das Traumcabriolet nach vorne zu steuern. Aber mit dem Blick nach hinten kann ich natürlich nicht sehen, wer da aus der Zukunft auf mich zukommt – ich zum Beispiel, mein eigener, mir selbst unkenntlicher Fremdling.
Meine Augen schlottern in dieser Zentrifuge. „Kannst du mir verzeihen?“ frage ich kleinlaut.
„Niemals!“ ruft der andere. „Es sei denn, du verzeihst dir selbst.“ Grinst, und verschwindet.
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