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„Something Different“?

Das einst beliebte Billigreiseland Bulgarien ist auf der Suche nach neuen touristischen Perspektiven  ■ Von Yörn Kreib

„Auf der Strecke ist doch seit 40 Jahren kein Mensch mehr gefahren!“ – Der Schalterbeamte gerät sichtlich ins Schwitzen. Interessiert und belustigt zugleich wühlt er sich durch einen Stapel angestaubter Kursbücher und Eisenbahn-Streckennetzkarten der ČSFR, Ungarns und Jugoslawiens. Transitländer auf der Bahnfahrt in die bulgarische Hauptstadt Sofia. Obwohl es von Berlin aus täglich eine direkte Zugverbindung gibt, scheint der Billettwunsch sehr kompliziert zu sein und nur selten vorzukommen.

Unkenntnis und Desinteresse verstellen vielen Menschen im Westen den Blick für die Realität im einst so beliebten Billigreiseland Bulgarien. Der Westen blicke „auf den Osten wie auf eine unerwartete Erbschaft, für die man nicht so recht eine Verwendung hat und man zuerst einmal lustlos an die Kosten der Entrümpelung denkt“, so der Schriftsteller Richard Wagner.

Im Wintersportort Borovoz, etwa 70 Kilometer südlich von Sofia am nördlichen Rand des Rilagebirges gelegen, läuft die „Entrümpelung“ inzwischen auf Hochtouren. Überall wird gehämmert, gepinselt, werden Liftanlagen repariert und neue Fundamente gegossen. Obwohl auch hier viele Unterkünfte und Geschäfte mangels Touristen geschlossen werden mußten, sei Winterurlaub in Bulgarien wieder im Aufwind, heißt es beim deutschen Reiseveranstalter ITS. Allein für diese Wintersaison hätten doppelt so viele Urlauber wie im Vorjahr gebucht. Zudem wollen sich ausländische Investoren in Borovez engagieren. Mit der bestehenden – allerdings sanierungsbedürftigen – Infrastruktur (Lifte, Seilbahn, Hotels) und dem langen schneesicheren Winter könnte Borovez durchaus eine ernsthafte Alternative zum Skizirkus in den Alpen werden.

„Frieden, Tourismus und Zusammenarbeit“ steht auf der großen, leicht angerosteten Tafel am Ortsausgang von Melnik, einem kleinen denkmalgeschützten Dorf an den Südhängen des Piringebirges. Die Blütezeit des früher in ganz Europa bekannten Weinanbaugebiets ist lange vorbei. Und seitdem die Touristen, die hier kurten oder zu Bergtouren ins Pirin starteten, wegbleiben, wirkt Melnik wie ausgestorben. Gasthäuser und Museen sind geschlossen, die restlichen Etablissements öffnen nur noch sporadisch.

Der Platzwart des Campingplatzes in Melnik schwärmt von den alten Zeiten. Zum Bersten voll sei es früher gewesen. Jetzt ist der so idyllisch am Bachufer gelegene Platz verwaist. Auch im Sommer hätte sich kaum jemand hierher verirrt. Das ist eine Erfahrung, die für ganz Bulgarien gilt: Die Übernachtungszahlen auf Campingplätzen gingen im Jahr 1991 gegenüber 1990 um fast 70 Prozent zurück. Für viele Osteuropäer, Hauptnutzer der Campingplätze, ist der Bulgarien-Urlaub heute unbezahlbar.

Für die Angestellten im Zwei- Sterne-Hotel Melnik sind harte Zeiten angebrochen. Vor der Wende seien fast nur Camper aufgekreuzt, erfahren wir an der Rezeption in der reichlich überdimensionierten Eingangshalle des Hotels. Heute kämen insgesamt zwar weniger Gäste, die würden aber im Hotel übernachten. Trotzdem sei die Arbeit mehr geworden. Kaum zu glauben. Denn Gäste scheinen auch jetzt Mangelware zu sein. DieArbeitszeit in der Sitzgruppe vor TV-Gerät und Schopska-Salat zu verbringen, ist mehr als kurzweilig.

Doch haben viele den Wechsel vom mürrischen Staatsbediensteten zum kreativen Privatunternehmer geschafft: Wird ein Taxi benötigt, vergißt der Hotelangestellte rasch das TV-Programm und macht den eigenen PKW startklar. Findige Bulgaren haben die Bedürfnisse der Touristen längst erkannt – und sich auf diese entsprechend eingestellt: Es gibt nun Brathähnchen mit Pommes, „ecologically produced“, und Wein, „ohne chemische Zusätze erzeugt“. Oder Steilwandklettern an der Fassade des Hotel Europa am Sonnenstrand.

Nicht wenige Bulgaren aber tun sich immer noch schwer mit der neuen Wettbewerbssituation. Vor allem in Behörden halten viele am Alten fest. Schon der Gang aufs Polizeirevier macht dies deutlich. Im Informationshäuschen liegt ein Polizist, das Gesicht zu einer säuerlichen Miene verzogen, mit dem Oberkörper auf dem Tisch. Die Dienstmütze nach hinten geschoben, bemüht er sich nicht einmal darum, geschäftig zu wirken. Unversehens wird der Besucher zum lästigen, den Staatsdiener umschwirrenden Insekt, das dieser schließlich verjagt und an eine andere Dienststelle verweist.

Angesichts solcher Erlebnisse neigen viele Westeuropäer schnell zu unüberlegten Verurteilungen. Doch Vorsicht: Dieser „homo buerocraticus“ fühlt sich auch in deutschen Amtsstuben zu Hause! Nur scheinen Deutsche und Bulgaren unterschiedliche Verhaltensweisen entwickelt zu haben. Die Bulgaren hätten im Umgang mit der Staatsbürokratie ein enormes Maß an Pragmatismus und Flexibilität entwickelt; sie würden es vorziehen, ihre Angelegenheiten ohne den Staat zu regeln, weiß der seit einem Jahr in Bulgarien arbeitende Deutschlehrer aus Erfahrung. Hingegen neigten die Deutschen dazu, möglichst viel Verantwortung dem Staat zu übertragen.

Die Folgen dieser Einstellung sind in Bulgarien nicht zu übersehen. Während sich kaum jemand für den Zustand des öffentlichen Raums (Bahnhöfe, Kinos, Plätze, Grünanlagen) verantwortlich fühlt, wird der Pflege des privaten Raums sehr viel Zeit gewidmet. Der sichtbarste Beweis sind die üppig blühenden und Gemüse hervortreibenden Privatgärten.

Westliche Produkte überschwemmen den bulgarischen Markt und hinterlassen bunte Spuren im einst tristen Grau: Kleidung, Kosmetik, Getränke, Zigaretten, Plastiktüten, Musik. Gerade die Musik, die unüberhörbar aus Imbißbuden und Cafés dröhnt, gibt Aufschluß über das Gefühlsleben einer Jugend, die abrupt aus der verordneten Isolation herausgerissen wurde. In den Texten der favorisierten Heavy-Metal-Bands spielt der Tod, bis hin zur Todessehnsucht, eine zentrale Rolle. Setzen sich die Jugendlichen auf der musikalischen Ebene so mit dem Tod der bisherigen Ideale auseinander? Nur wenige Schüler wollen dieser Interpretation zustimmen. Die hoffnungsvolle, zukunftsweisende Kehrseite der Medaille brachte die deutsche Rockband The Scorpions mit „Wind of Change“ zum Ausdruck. Sie wurde die Aufbruchshymne einer neuen Zeit.

Aufbruchstimmung verbreiten auch die Vertreter der wenigen in Bulgarien engagierten Reiseveranstalter. Das „Tal der Tränen“ sei überwunden; seit 1990 gehe es steil bergauf, heißt es bei der TUI. Und auch bei ITS (Jet Reisen) ist der Buchungsverlauf „hervorragend“. Bulgarien habe die besten Perspektiven im Ostblock, prognostizieren sie übereinstimmend. Ein Gutachten, von bulgarischen Stellen in Großbritannien in Auftrag gegeben, sieht Bulgarien im Jahr 2000 bereits als „europäisches Fremdenverkehrszentrum“. Maßnahmen zum Erhalt der Umwelt, zur Verbesserung der Verkehrsverbindungen und zur Ausbildung qualifizierter Fremdenverkehrsfachkräfte könnten den bulgarischen Fremdenverkehr durchaus zum „Hit auf der Balkanhalbinsel“ werden lassen, verheißt ein in Sofia erscheinendes Wirtschaftsblatt.

Im Kampf um Kunden aber hat es Bulgarien schwer, sich Gehör zu verschaffen, weil es kein Geld für die notwendige Fremdenverkehrswerbung gibt. Seit 1990 mache Bulgarien praktisch keine nationale Fremdenverkehrswerbung mehr, sagt Manol Dimitrow, Geschäftsführer der Touristenreklame AG. Von den früher 20 Auslandsvertre-

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tungen könne man zur Zeit lediglich noch 8 bis 9 unterhalten. Folgerichtig fordert Dimitrow, einen Teil der im Tourismus erzielten Gewinne für die nationale Tourismuswerbung abzuführen. Nur so könnten die touristischen Vorzüge Bulgariens publik werden.

Kein Wunder also, wenn Bulgarien-Veranstalter als Hauptreisemotiv allein die niedrigen Preise nennen – und dies in der Werbung auch entsprechend herausstellen. Für manchen Westtouristen ist Bulgarien nur eine Notlösung: die finanzierbare Alternative zu den teuren Traumzielen in Spanien und Griechenland. Viele Ostdeutsche nutzen das Währungsgefälle zur späten Rache für die einst erlittene Schmach als Touristen zweiter Klasse.

Für Boris Parvanov vom bulgarischen Reiseveranstalter Orbita Tours stellt das „Image eines Billigreiselandes“ hingegen eher ein Hindernis dar. Bulgarien brauche ein neues Image, das den tatsächlichen Gegebenheiten des Landes – traditionsreiche Kultur und bezaubernde Natur – entspräche. „Something different!“ heißt denn auch das Motto, mit dem er in Deutschland für Reisen in das „echte Bulgarien“ werben will.

Zur Zeit profitiert der bulgarische Fremdenverkehr von der relativen Ruhe im eigenen Land sowie den politischen und militärischen Disparitäten im übrigen Osteuropa. Doch allein der bulgarische Nationalismus – von den entmachteten Kommunisten (jetzt „Bulgarische Sozialistische Partei“) kräftig angeheizt – könnte den Demokratisierungsprozeß schnell wieder abwürgen. Sowohl das Mazedonien-Problem als auch der Konflikt mit der türkischen Minderheit und anderen Bevölkerungsgruppen (Roma, Pomaken, Juden) könnten sich leicht zum Flächenbrand ausweiten. Das westliche Urteil würde wohl einstimmig ausfallen: Der Balkan als „Synonym für Mißstände“, der Balkan als „die Zauberformel, mit der sich alles Böse erklären ließe“ (Richard Wagner).

Zu kämpfen haben die Touristiker aber auch mit der „negativen“ Berichterstattung über die zum Teil katastrophale Umweltsituation in Bulgarien. In einem Land Urlaub zu machen, wo atomare Schrotthaufen jeden Moment zu explodieren drohen? – Für viele wohl undenkbar!

Westliche Forderungen, den Risiko-Reaktor in Kosloduj abzuschalten, hat Bulgarien bisher abgelehnt. Aus „gutem“ Grund. Denn während die Westeuropäer – viele eher um ihre eigene Sicherheit als um die der Bulgaren besorgt – im wohlig warmen Wohnzimmer solches leicht fordern können, stellt sich die Situation für die betroffenen Bulgaren vor Ort „etwas“ anders dar. Ohne Alternativen zur selbst erzeugten Kernenergie – und die können derzeit nur vom Westen finanziert werden – würden viele Bulgaren bei Atomverzicht im Winter frierend im Dunkeln sitzen.

Gelassen „weltmännisch“ handhaben die vier weiblichen Angestellten hinter dem Bahnkartenschalter des Rila-Reisebüros in Sofia den Wunsch nach einem Zugbillett Sofia–Berlin. Freundlich und souverän wird der Ticketwunsch innerhalb kürzester Zeit erfüllt – unter Aufbietung fast aller verfügbaren Arbeitskräfte.

Als der bulgarische Schaffner im Grenzbahnhof Dimitrovgrad den Zug verläßt, zufrieden schmunzelnd seine „Beute“ (zwei Rollen Toilettenpapier) in der Diensttasche verstaut und sich eine Zigarette anzündet, kommt mir wieder die besorgte Frage eines Bulgaren in den Sinn. Ob er eine Pistole auf seine zweiwöchige Deutschlandreise mitnehmen solle. Seit den Ereignissen von Rostock eine verständliche Frage.

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