„Soll ich zusehen, wie man mich bedroht?“

■ Ralph Giordano zu den Reaktionen auf seinen Brief an Bundeskanzler Kohl/ Ich werde täglich bedroht/ Der Staat hat völlig versagt

taz: Ist der Brief an Helmut Kohl als persönliche Meinung von Ralph Giordano zu verstehen, oder sprechen Sie für eine bestimmte Gruppe Juden?

Ralph Giordano: Sie werden verstehen, daß ich keine Namen nenne. Die Voraussetzung für den Brief war die starke Beunruhigung innerhalb der jüdischen Bevölkerung; was das anbetrifft, kann ich pauschal sein. Der rassistische Flächenbrand hat doch antijüdische Bedeutung, Sehen Sie doch nur die Friedhofsschändungen, den Anschlag auf die Gedenkstätte im ehemaligen Konzentrationslager bei Oranienburg, der Tod des Wuppertalers. All das hat zur erheblichen Beunruhigung geführt. Ich kenne Leute, die fragen, müssen wir Juden wieder flüchten?

Sie drohen bewaffneten Selbstschutz an. Das ist aber doch eine erheblich andere, neue Qualität. Inwieweit findet das Zustimmung in der jüdischen Bevölkerung?

Der Selbstschutz trifft auf viele Juden in Deutschland zu. Aber das ist interpretierbar. Die Selbstbewaffnung ist interpretierbar. Das muß die letzte, die äußerste Etappe sein. Sie müßten hören, welche Morddrohungen in jüdischen Altersheimen eingehen. Ich bekomme haufenweise Drohanrufe. Ich habe in Köln, in Hamburg, in München, in Bonn mit jüdischen Mitbürgern gesprochen, vor diesem Brief an Kohl.

Befürwortet in der Hauptsache die ältere Generation den Selbstschutz?

Die Überlebenden des Holocaust empfinden eher Furcht vor dieser Selbstbewaffnung. An der Selbstbewaffnung wird sich zeigen, was in der Gesellschaft akut ist und was nicht.

Was verstehen Sie unter bewaffnetem Selbstschutz?

Darauf gebe ich Ihnen keine direkte Antwort. Die Bewaffnung der Rechtsextremen ist bekannt. Ohne daß etwas geschieht. Es passiert ihnen nichts. Ich gehe davon aus, wenn ich Ihnen erkläre, ich hätte mich mit einer Schußwaffe bewaffnet, dann bekomme ich ein Ermittlungsverfahren, ob ich einen Waffenschein habe oder nicht. Ich als Überlebender sage: Niemals stehe ich meinen Feinden wehrlos gegenüber. Das habe ich gesagt in dem Brief. Ich bekomme jeden Tag Drohungen. Die sind real!

Erklären Sie mit diesem Brief der zivilen Gesellschaft den Bankrott?

Wenn Juden sich in Deutschland bewaffnen müssen, dann ist das eine Bankrotterklärung der Gesellschaft an uns Juden. Es ist ein Wunder, daß die Ausländer sich noch nicht bewaffnet haben.

Aber das geschieht jetzt, sie könnten durch Sie ermuntert werden.

Wenn die rechten Gewalttäter sich bewaffnen, dann wollen sie auch angreifen. Wenn Juden sich bewaffnen oder Ausländer, dann wollen wir uns vor dieser Gewalt schützen. Sie zäumen das Pferd vom Schwanz auf. Das ist eine defensive Maßnahme. Ich werde niemand angreifen, der mich nicht angreift.

Warum ruft ausgerechnet Giordano die Männer zur Waffe. Das ist doch machomäßig und entspricht überhaupt nicht dem Bild, das man von Ihnen hat.

Ach kommen Sie mir nicht mit dem Feminismus. Für uns Juden war der Tod damals gegenwärtig. Wir hatten damals zu Hause drei Waffen. Wenn die Geheime Staatspolizei gekommen wäre, hätte es ein großes Geballere gegeben, verstehen Sie. Wir wissen, wozu Gewalttäter fähig sind. Jetzt ist die Situation für mich so, daß ich als nächster auf der Liste stehe. Es existieren doch schon Listen. Soll ich zusehen, wie man mich physisch bedroht? Wir müssen die Dimension begreifen. Aus dieser deutschen Republik kommen solche Gewalttäter. Man stelle sich vor, was passiert wäre, wenn nicht vierzehn Ausländer bis heute umgebracht worden wären, sondern vierzehn Manager, Politiker, Generaldirektoren. Wie hätte der Staat da reagiert!

Innerhalb der jüdischen Intellektuellen stößt Ihr Brief auf Kritik. Inge Deutschkorn sagt, zunächst müßten alle staatlichen Maßnahmen gegen Rechts ausgeschöpft werden. Teilen Sie denn diese Einstellung nicht?

Da muß man mir beweisen, daß es etwas nützt.

Was fordern Sie?

Ich fordere, daß in der Gesellschaft eine Atmosphäre entsteht, die den Rechtsextremisten klarmacht, Ihr könnt nicht risikolos agieren. Ich denke aber, dafür ist es schon zu spät. Sie agieren risikolos. Die Politiker haben zu viele Schwächen gezeigt. Das macht sie so mutig. Die Täter können nur von der Straße gebracht werden durch das Gewaltmonopol des Staates, durch die Ordnungsmacht. Das fällt mir nicht leicht, so etwas zu sagen.

Lassen Sie uns einen Ausblick wagen. Wie sieht die bundesrepublikanische Gesellschaft in zwei Jahren aus? Herrscht dann nur noch das Recht des Stärkeren, nicht das der Argumentation, der Diskussion? Auch, weil sich alle gegen alle bewaffnen.

Das kann verhindert werden. Ich möchte darauf hoffen, daß dieser Brief an Kohl dazu beiträgt, die Gefahr zu zeigen, in der die Gesellschaft ist.

Darf ich annehmen, Sie wollen mit dem Brief eine präventive Polarisierung der Gesellschaft herbeiführen.

Ja, so könnte man das nennen. Annette Rogalla