: Soldaten müssen „peng, peng!“ rufen
■ Wehrbeauftragter Biehle: Kürzungen und unklare Vorgaben sorgen für miese Stimmung in der Bundeswehr
Bonn (taz) – Das Selbstbewußtsein vieler Bundeswehrsoldaten gleicht von der Konsistenz offenbar einem Schweizer Käse: Es weist große Löcher auf. Das geht aus dem Jahresbericht 1993 hervor, den der Wehrbeauftragte des Bundestags, Alfred Biehle, gestern dem Verteidigungsausschuß und der Öffentlichkeit vorgestellt hat. Viele Soldaten sind danach nicht mehr motiviert, die Stimmung in der Truppe sinkt. Der Grund laut Biehle: „Für die Bundeswehr haben sich die Rahmenbedingungen, unter denen sie ihren Auftrag zu erfüllen hat, weiter verschlechtert.“
Am meisten zu schaffen machten der Bundeswehr danach die Kürzungen und die lange anhaltende Ungewißheit über die tatsächliche Höhe des Verteidigungsetats. Noch zur Jahreswende habe es keine klaren Vorgaben gegeben, klagte Biehle. Ohne die notwendige Planungssicherheit habe die Bundeswehr sich auf ihr „breiter gewordenes Aufgabenspektrum“ einstellen müssen.
Die Auswirkungen der Kürzungen seien so gravierend, daß viele Soldaten gar von Zweifeln am Sinn des Wehrdienstes geplagt würden. Weil Übungsmunition fehle, müßten sie bei der Ausbildung die Schußabgabe mit dem Ruf „peng, peng!“ imitieren. Der „Rotstift“ werde immer mehr zum Feind der Armee. Zur Verwirrung der Truppe hat für Biehle auch die politische Auseinandersetzung über Auslandseinsätze und Grundsatzfragen der Außenpolitik beigetragen: „Die Soldaten haben das Gefühl, daß Parlament, Bundesregierung und Gesellschaft ihr dringendes Anliegen, Gewißheit über die künftigen Aufgaben der Bundeswehr zu erhalten, nicht klar, einvernehmlich und verbindlich regeln können.“ Der Wehrbeauftragte forderte in diesem Zusammenhang eine klare Vorgabe, die von der Öffentlichkeit akzeptiert werde.
Geharnischte Kritik übte Biehle an der Tatsache, daß 95 Prozent aller Kriegsdienstverweigerer anerkannt werden. Die Akzeptanz der allgemeinen Wehrpflicht bei den betroffenen jungen Männern sinke. Die hohe Anerkennungsquote gefährde den Weiterbestand der Wehrpflicht. Falls diese Entwicklung sich fortsetze, werde es bald mehr Zivildienstleistende als Grundwehrdienstleistende geben. Deshalb müsse die Attraktivität des Grundwehrdienstes erhöht werden.
Im vergangenen Jahr hatten mehr als 130.000 junge Männer einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung gestellt. Das waren rund 3.000 weniger als im Vorjahr. Unter dem Eindruck des Golfkriegs hatte die Zahl der Verweigerer 1991 mit 155.212 einen Höhepunkt erreicht, und ging seither wieder zurück. Parallel dazu stieg die Zahl der Anträge von ungedienten Wehrpflichtigen ständig an. Nahezu 30 Prozent eines Jahrgangs wollten derzeit den Wehrdienst verweigern, stellt Biehle in dem Jahresbericht fest.
Trotz der schlechten Finanzlage will Biehle kulturelle Errungenschaften der NVA in die Bundeswehr hinüberretten. So heißt es in dem 50seitigen Bericht des Wehrbeauftragten: „Bei allem Verständnis für die Sparzwänge würde ich es gleichwohl begrüßen, wenn der ,Berliner Männerchor Carl- Maria-von Weber‘, der aus ehemaligen NVA-Soldaten besteht, die bis 1991 als Weiterverwender übernommen waren, weiterhin durch die Streitkräfte unterstützt werden könnte.“ Hans Monath
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen