heute in hamburg: „Solche Platten zu besitzen, war gefährlich“
Reinhard Otto, 72, ist seit 1989 Mitglied der Geschichtswerkstatt Barmbek und seit mehr als 20 Jahren im Schallarchiv Barmbek.
taz: Herr Otto, was für Schallplatten stellen Sie heute vor?
Reinhard Otto: Es sind Schallplatten, die Lieder der Arbeiterbewegung in den 1920er-Jahren abspielen. Sie stammen aus dem Umfeld der SPD und der KPD. Es waren Schallplatten, die Arbeiter gemeinsam gehört und dabei auch gesungen haben.
Was war das Ziel der Aufnahme?
Damals nannte man es Propaganda. Das Wort war aber noch nicht negativ geprägt. Vor der NS-Zeit war es nur ein anderes Wort für Werbung. Diese Lieder wurden also eingesetzt, um für die eigenen politischen Ziele zu werben. Ganz unterschiedlichen Personen haben sie aufgenommen, aber alle mit dem Blickwickel, die Positionen der SPD und der KPD zu vertreten.
Wer war das Publikum dieser Lieder?
Es waren einmal die Mitglieder und die Sympathisanten der Parteien. Außerdem zielten sie auf die Arbeiterschaft. Man ist zum Beispiel mit einem Wagen durch die Stadt gefahren und hat angehalten, um laut die Platten abzuspielen. Dabei wurde eine Rede gehalten oder zu einer Demonstration aufgerufen. Es gab ja kaum andere Möglichkeiten: Die meisten Zeitungen und das Radio waren nicht in den Händen der Parteien, die also andere Wege suchten, um ihre Ansichten, Vorstellungen und Aktionen bekannt zu machen. Die Lieder eigneten sich dafür.
Welche Rolle haben die Lieder für die Arbeiter gespielt?
Sie waren ein Identifikationsmittel für die Menschen. Die Melodien der kommunistischen „Internationale“ oder der SPD-Hymne „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“ waren tief in ihrem Bewusstsein verankert. Allein an der Melodie erkannte man, ob der andere ein Genosse aus derselben Ecke war. Bis 1933 haben sich Arbeiter auch oft getroffen und gemeinsam gesungen. Damals wurde viel mehr als heute gesungen. Es war in der Gesellschaft verankert.
Wie hat sich das in der NS-Zeit entwickelt?
Solche Platten zu besitzen, war im Nationalsozialismus lebensgefährlich und das hat sich mit den Jahren verschärft. Leute wurden deswegen ins Konzentrationslager geschickt. Es gibt viele Protokolle von Spitzeln, die ihre Nachbarn angezeigt haben, weil sie die Internationale abgespielt haben. Diese Repression im „Dritten Reich“ ist der Grund, warum es heute nur noch so wenige von diesen Schallplatten gibt. Das Thema wurde aber leider sehr wenig von Historikern beforscht.
Interview Adèle Cailleteau
„Klingende Arbeiterbewegung: Schellackplatten für Hof und Heim sowie Straße und Säle“, 19.30 Uhr, Geschichtswerkstatt Eimsbüttel, Sillemstraße 79
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