: Sofort ergreifend
■ Eine späte Entdeckung: Der Komponistin Lili Boulanger wird ein Festival gewidmet
Die Musikgeschichte hätte Lili Boulanger nach ihrem frühen Tod fast vergessen. Wäre nicht ihre Schwester Nadia gewesen, die bis zu ihrem Tod 1979 als Kompositionslehrerin eine Institution im musikalischen Leben Frankreichs war, wäre ihr Werk heute sicherlich kaum noch greifbar. Aber in der Erinnerung von Nadia wurde ihre jüngere Schwester zu einer Heiligen, umwoben von Legenden.
Lili Boulanger wurde vor 100 Jahren am 21. August 1893 als Tochter eines Komponisten und einer Opernsängerin mitten in das musikalische Paris hineingeboren. Mit 16 Jahren entschloß sie sich, Komponistin zu werden. Vier Jahre später erhielt sie den großen Rompreis der Pariser Akademie der schönen Künste: eine Sensation, denn sie war die erste Frau, die mit diesem begehrten Stipendium in Rom ausgezeichnet wurde. Die stets kränkelnde, aber immer auch lebensfrohe, von Zeitgenossen als Mensch mit einmaliger Ausstrahlung beschriebene Lili starb fünf Jahre später, im März 1918. In den wenigen Jahren ihres Schaffens hat sie einige bedeutsame Kompositionen hinterlassen.
Die einhundertste Wiederkehr ihres Geburtstages wird in aller Welt gefeiert — warum aber gerade in Bremen? Kathrin Mosler, Initiatorin der Frauenkulturinitiative Callas, begegnete in ihrem Studium an der Hochschule für Musik zum ersten mal der Musik Lili Boulangers und war — wie fast alle, die sich mit ihrer Musik beschäftigen — sofort davon ergriffen. Das war der Anfang für ein Festival, das sich vom Hochglanz- Musikfest bewußt unterscheidet. Ermöglicht wurden die Boulanger-Tage durch die Kooperation von Callas mit dem Verlag Texte und Zeichen und der Hochschule für Musik.
Finanziert wurde das Projekt allein durch private SponsorInnen, die sich damit aber keine Kultur- Highlights für die eigene Publicity eingekauft haben. „Diese Veranstaltungen können kein Prestigeobjekt sein,“ sagt Kathrin Mosler und betont noch einen Unterschied zum Musikfest: Anders als dort würden an diesem Wochenende beim Bremer Boulanger-Festival „Spitzenkräfte der Region“ das Werk der Komponistin interpretieren.
Um der Persönlichkeit von Lili Boulanger nachzugehen, hatten die Veranstalterinnen schon gestern abendzu einem international besetzten Podiumsgespräch geladen, an dem auch die amerikanische Musikwissenschaftlerin Leonie Rosenstiel teilnahm. Sie hatte wesentlichen Anteil an der Entmythologisierung von Leben und Werk Lili Boulangers. Ihr gleichnamiges Buch (The Life and Works of Lili Boulanger) wird im Verlag Zeichen und Spuren im Herbst auf deutsch erscheinen.
Darüberhinaus zeigt das Institut Franais eine kleine Ausstellung über Lili Boulanger. Wer sich eingehender mit Leben und Werk dieser Komponistin befassen möchte, dem bzw. der sei der Katalog des Festivals empfohlen.
Das Werk Lili Boulangers steht dem ihrer Zeitgenossen Claude Debussy und Gabriel Faure nahe, zeugt aber von eigenem Stil. Die Musik des späten 19. Jahrhunderts hatte fast alle Möglichkeiten der bis dahin tradierten Tonsysteme ausgeschöpft. Auf der Suche nach Auswegen wagten sich die KomponistInnen in neue Gefilde vor. Boulanger geht in ihrer Harmonik weiter als Debussy; ihren späten Chorwerken, den Psalmkompositionen, wird ein „Klang von zyklopischen Ausmaßen“ mit einer „archaisch anmutenden Harmonik“ zugeschrieben. In ihrem 1914 fertiggestellten Liederzyklus Clairieres dans le ciel (nach Gedichten von Francis Jammes) dagegen schildert sie gefühlvoll, farbenreich und mit dichten Klängen Sehnsucht und Liebe, ohne dabei in Kitsch oder klischeehafte Tonmalerei abzugleiten.
Wilfried Wiemer
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