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So weit und schnell die Füße tragen

Vom Wegrennen zum Wettrennen: sportlicher Lauf durch die Jahrtausende  ■ Von Michaela Schießl

Wie oft die Marathonläufer dieser Welt das britische Königshaus wohl schon verflucht haben, wegen dieser letzten, furchtbaren, ganz und gar unnötigen 2.195 Meter? Diese Schlußqual nach 40 langen Kilometern, die nur eingeführt wurde einer königlichen Laune wegen?

Damals, als 1908 in London die IV. Olympischen Spiele der Neuzeit stattfanden, hatte sich die Queen Alexandra in den Kopf gesetzt, den Startschuß zum Marathonlauf vom Schloß Windsor aus zu geben. Die Tatsache, daß das Schloß statt der üblichen 40 Kilometer leider 42,195 Kilometer vom London White-City-Stadion entfernt war, konnte die eigensinnige Hoheit nicht umstimmen. Sehr zum Leidwesen von Dorando Pietri. Der italienische Pastetenbäcker führte bis kurz vor dem Ziel mit großem Abstand, als ihm die königliche Streckenverlängerung zum Verhängnis wurde. Kaum war er ins Stadion eingelaufen, brach er zusammen. Verzweifelt versuchte er, sich auf allen Vieren ins Ziel zu schleppen. Als sein Verfolger John Hayes auf die Zielgerade einbog, fehlten Pietri nur noch fünf Meter zum Ziel. Da sprangen zwei Männer, die das Drama nicht länger aushalten konnten, zu Hilfe. Sie griffen dem Entkräfteten unter die Arme, stubsten ihn über die Ziellinie – und sorgten damit für seine Disqualifikation. Wenigstens die Queen zeigte anschließend Schuldbewußtsein: Als Pietri aus seiner Ohnmacht erwachte, schenkte sie ihm einen Goldpokal und bat ihn, ihr Land nicht in schlechter Erinnerung zu behalten. Die Streckenlänge von 42,195 Meter jedoch blieb erhalten, quasi als Mahnmal für die Schrulligkeit der Briten.

Zwölf Jahre zuvor, 1896, gab sich Baron Pierre de Coubertin noch mit 40 Kilometern zufrieden, als er den bis dato unbekannten Marathonlauf ins Programm der ersten Olympischen Spiele der Neuzeit aufnahm. Eine symbolische Verbindung zwischen Antike und Moderne sollte er darstellen, doch ganz geheuer war dem Franzosen nicht: Würden die Athleten diese Strecke durchstehen? Coubertin atmete auf, als der Schafhirt Spiridon Louis lebendig und als erster nach vierzigtausend Metern durchs Ziel lief. Was der ausgepumpte Grieche nicht wußte: seine Qual war zutiefst unhistorisch. Denn erstens mißt der Weg von Marathon nach Athen günstigenfalls 36,7 Kilometer. Und zweitens gehört die Geschichte ohnehin eher ins Reich der Sagen.

Sie stammt aus dem Jahr 490 v. Chr. Geburt, als persische Streitkräfte in Marathon an der Ostküste Attikas landeten. Die Athener schlugen den zahlenmäßig überlegenen Invasionstrupp in die Flucht. Unmittelbar danach soll ein junger, bewaffneter Krieger nach Athen gelaufen sein, um den Sieg zu verkünden. Was er, der Sage nach, pflichtbewußt tat: Völlig ausgepustet kam er an, sagte noch „Freuet euch, wir haben gesiegt“, und brach tot zusammen. Doch schon beim Namen des Läufers gibt es Ungereimtheiten: Herakleides Pontikos berichtet, es sei der Eroieer Thersippos gewesen, andere behaupten, es war einer namens Eukles, auch der Tagesläufer namens Philippides wird als mutmaßlicher Bote genannt. In der Tat ist es wahrscheinlich, daß die Athener einen professionellen Läufer als Nachrichtenüberbringer geschickt haben oder einen Reiter. Ausgeschlossen indes ist, daß ein Soldat in voller Waffenmontur eine solche Strecke im Laufschritt bewältigt.

Mit Leben und Tod hatte Laufen schon bei den Urmenschen zu tun. Cirka 400.000 v. Chr. Geburt rannten die ersten Menschen im wahrsten Sinne des Wortes um ihr Leben. Die Jagd nach Fleisch und die Flucht vor Feinden machten das ausdauernde Laufen zu einer existentiellen Notwendigkeit. Etwa 25 Quadratkilometer waren nötig, um einen einzigen Jäger zu ernähren, eine Horde von 30 Menschen brauchte ein Gebiet von 750 Kilometern. Jede Menge Laufarbeit.

Mit zunehmender Zivilisation und durch die Erfindung des Ackerbaus erhielt das Laufen eine andere Funktion. Nun diente es in erster Linie der Kommunikation, laufende Boten überbrachten die neusten Nachrichten in die verschiedenen Dörfer. Sportives Laufen entwickelte sich erst in größeren Kulturen. Die ägyptischen Pharaonen Sesostris I. und Amenophis II. galten als gute Läufer, am Hofe von König Salomon (963-925 v. Chr.) wurden Laufwettbewerbe durchgeführt, ebenso bei den Hethitern, Sumerern und in der mykenischen Gesellschaft. Viel galt das Laufvermögen im alten Griechenland. Homer beschreibt in seinen Epen Laufwettbewerbe, die anläßlich von Hochzeiten, Totenfeiern, Brautwerbungen und sonstigen Festen veranstaltet wurden.

In Olympia wurden ab dem 9. Jahrhundert kultische Kämpfe abgehalten. 776 v. Chr. kürte man dort erstmals Sieger – die Zählung der Olympischen Spiele begann. Anfänglich liefen die Olympioniken nur eine Strecke, die 192 Meter lange Stadionrunde. Das Startsignal soll ein Trompetenstoß gewesen sein, und die Läufer, die zu früh starteten, erwartete die Prügelstrafe. Dem Sieger indes winkten Ruhm, Ehre und Reichtum. Kein Wunder, daß sich im Laufe der Zeit ein Berufsathletentum mit berühmten Läufern herausbildete. Das Laufen gewann an gesellschaftlicher Akzeptanz und fand Eingang in die Erziehung: An den Schulen und beim Militär, überall wurde gewetzt.

Auch die Römer verehrten schnelle Läufer, beim Militär wie im folkloristischen Leben. Bei den volkstümlichen Frühlingsläufen durften sogar Frauen an den Start. Doch ab 394 n. Chr. gewann das körperfeindliche Christentum immer mehr an Einfluß. Die Laufkultur verlor an Bedeutung, schließlich verbot der oströmische Kaiser Theodosius der Große die fast 1.200 Jahre alten Olympischen Spiele. Begründung: Sie hätten einen eindeutig heidnischen Charakter.

Bei den Germanen war das Laufen als Voraussetzung für Erfolg im Krieg und auf der Jagd beliebt. Eine Vorliebe, die zwischen 1000 und 1300 auch die Ritterkultur kennzeichnete. Laufwettbewerbe fehlten bei keinem Turnier. Zeitgleich etablierte sich der Lauf im bäuerlichen Leben als Teil der Festkultur. Ob zu Fastnacht, zu Kirchweih, zur Sonnenwende oder um den Frühling zu begüßen, Männer und Frauen waren auf den Socken.

Mit Beginn des Humanismus Anfang des 15. Jahrhunderts wurde die Leibeserziehung in die Schulen aufgenommen. In Deutschland bildete sich später unter Friedrich Ludwig Jahn das Turnen heraus, es diente als Sammelbegriff für alle Leibesübungen. Doch als ab 1820 konservativ- monarchistische Kräfte dominierten, wurde Turnen verboten. Heimlich übten die Menschen in Hallen – langes oder schnelles Laufen fiel damit aus.

In England indes schaffte die industrielle Revolution die Voraussetzung für den modernen Sport. Das Leistungs-, Rekord- und Konkurrenzprinzip – ein Wesensmerkmal von Sport – wurde zum gesellschaftlich anerkannten Wert. Die überragende Rolle spielte der Laufsport: pedestrianism. Im 17. Jahrhundert wurden footraces ausgetragen. Die Läufer waren Bedienstete, meist Boten. Deren adlige Herrschaft fand enormen Spaß daran, auf ihre rasenden Domestiken zu wetten. Die Wettläufe fanden im Rahmen großer Pferderennen statt, die Aktiven mußten Jockeykostüme samt Gerten tragen und bekamen, wie die Pferde, zwecks Chancengleichheit Handicap-Gewichte angehängt. Im Alltag arbeiteten diese footrunner als Laufburschen. Sie wurden überflüssig, als die Straßen besser wurden. Viele von ihnen verdienten ihren Lebensunterhalt fortan als professionelle Wettläufer.

Um 1800 herum erwärmte sich langsam auch die feinere Gesellschaft für den Low-class-Sport. Die hohen Herren begannen, selbst gegeneinander um die Wette zu laufen. Auf dem fashionablen Rennplatz von Newmarket trat Lord Dingby gegen den Herzog von Monmouth an, um zu beweisen, daß der Adel längst nicht so degeneriert sei, wie das Volk behauptete. Damit begann eine neue Freizeitbeschäftigung der Hochherrschaftlichen, die sie natürlich keinesfalls gemeinsam mit dem einfachen Volk ausüben wollten. So erfand man den „Gentlemen- Sport“: professioneller Pedestrianismus wurde verachtet, der Amateurparagraph erfunden und fertig war die gesellschaftliche Abgrenzung. Während die Profi-Peds mehr und mehr zu Schaustellern degradiert wurden, kultivierten die Wohlhabenden den Laufsport. Running und walking entwickelten sich zu einem geregelten System – die Geschwindigkeit wurde mit wachsender Industrialisierung zum Epochenmerkmal. Das Zeitalter des bürgerlichen Sports begann, der sich nach und nach auf das europäische Festland übertrug.

1883 erschien in England das erste Trainingsbuch der Leichtathletik. Titel: „The Pedestrianism or an Account of the Performances of celebrated Pedestrians“. Auf 296 Seiten beschäftigte sich der Autor ausschließlich mit dem Laufsport. Bald darauf fand die athletische Bewegung Eingang in die Universitäten und Colleges. In Eton wurden seit 1845 Sprint- und Hürdenrennen ausgetragen. Besonders beliebt waren die Wettläufe zwischen den Universitäten Oxford und Cambridge. Immer stärker wurde die Athletik organisatorisch erfaßt, 1863 entstand der erste Leichtathletik-Verein: der Londoner „Mincing Lane Athletic Club“. Drei Jahre später wurde die 1. Britische Leichtathletik-Meisterschaft ausgetragen.

Die Leichtathletik war anfänglich eine reine Laufbewegung. In Deutschland etwa wurden zehn Jahre lang Meisterschaften nur für Laufwettbewerbe ausgeschrieben. 1883 wurde in Hamburg der Deutsche Athletik-Amateur-Verband gegründet, der für das Meisterschafts- und Rekordwesen zuständig sein sollte. Sein Gründungsziel: Förderung des Laufsports. Die Profilierung der Sportart Leichtathletik hing in erster Linie vom Rekordgedanken ab. Die internationale Vereinheitlichung der Strecken war eine Voraussetzung für Leistungsvergleich. Um dies zu gewährleisten, wurde 1913 der Internationale Leichtathletik-Verband (IAAF) gegründet. Er kümmerte sich fortan um einheitliche Regeln, einheitliche Strecken und um die Messung und Hierarchisierung der Leistungen.

Die erste festgehaltene Zeit stammt vom 27. Juli 1867, kurz nach der Erfindung der Stoppuhr: der Brite William MacLaren lief hundert Meter in 11,0 Sekunden. Dem Sieger der ersten, noch sehr folkloristischen Olympischen Spiele der Neuzeit, Thomas Burke (USA), reichten in Athen 1896 noch 12,0 Sekunden zum Sieg. Doch Burke ist eine wesentliche Neuerung zu verdanken: Er erhob den Tiefstart zur Standardtechnik.

Fehlstarts wurden bis zu den Olympischen Spielen 1912 in Stockholm noch mit Zurücksetzung geahndet, was bestens als taktisches Mittel genutzt werden konnte: Der gerissene Archie Hahn (USA) zuckte im Finale des olympischen 200-Meter-Laufs 1904 in St. Louis in seinem Startblock, seine Konkurrenten rasten los und wurden allesamt einen Yard zurückgesetzt. Hahn gewann in 21,6 Sekunden. 1912 in Stockholm galt diese Regel nicht mehr, jeder Läufer durfte so viele Fehlstarts machen, wie er wollte. Resultat: Der 100-Meter-Sieger Ralph Craig (USA) entnervte seine Gegner mit acht Fehlstarts. Später einigte man sich darauf, einen Sprinter beim dritten Fehlstart zu disqualifizieren.

Der erste von der IAAF aufgeführte 100-Meter-Weltrekordler hieß Donald Lippincott (USA), der in Stockholm im Vorlauf 10,6 Sekunden rannte. Die lange Jagd auf die 10-Sekunden-Marke begann. 1921 lief Charles Paddock (USA) 10,4. Jesse Owens schraubte 1936 in Chicago, zwei Jahre nach der ersten Leichtathletik-Europameisterschaft in Turin, den Weltrekord auf 10,2 Sekunden. Ein Jahr später holte er sich bei den „Nazi-Spielen“ in Berlin die Goldmedaillen über 100 Meter, 200 Meter, 4 x 100 Meter und im Weitsprung. 1960 erreichte der saarländische Feinmechaniker Armin Hary im Züricher Letzigrund endlich die heißersehnte 10-Sekunden-Marke. Das Zeitalter der elektronischen Zeitmessung begann 1964 in Tokio, doch erst 1977 annullierte die IAAF alle handgestoppten Rekorde. Die 9,94 Sekunden, die der Amerikaner Jim Hines 1968 in der Höhenluft von Mexico-City erzielte, gingen als erster offizieller 100-Meter- Weltrekord in die neuen Listen ein.

Von Beginn an übte das Laufen, egal wie schnell, bei den Zuschauern eine starke Faszination aus. Vielleicht, weil Laufen die Urform von Bewegung überhaupt ist, archaisch und zugleich schlicht, hochdramatisch und friedfertig. Der erste Läufer, der lange vor Jesse Owens Weltruhm erlangte, war der Finne Paavo Nurmi. Bei den Olympischen Spielen 1920 in Antwerpen holte der schweigsame Finne Gold über 10.000 Meter, im Querfeldeinlauf und Silber über 5.000 Meter. Es war der Beginn einer Ära: 22 Weltrekorde, neun goldene und drei silberne olympische Medaillen, vier Jahre ohne Niederlage. Ähnlich legendär wie Nurmi wurde der Langläufer Emil Zatopek, die „Lokomotive aus Prag“. Er fauchte und ächzte, den Kopf im Nacken und die Zunge rausgestreckt, auf daß ein jeder seine Qual erkennen möge. 18 Weltrekorde stellte er auf, viermal holte er olympisches Gold und einmal Silber.

Neben den großen Legenden gibt es viele kleinere, doch spätestens mit dem Dopingfall Ben Johnson bei den Olympischen Spielen in Seoul 1988 endete die Zeit der Unschuld im Laufsport. Inzwischen ziehen viele Lauffreunde die eigene Aktivität dem immer unglaubwürdigeren Fernseh-Höchstleistungssport vor: Die Laufbewegung boomt anhaltend, angefangen beim Joggen über die Wiederentdeckung des Walking, der Stadt-Marathonmode bis zu der Herausforderung der Ultra-Strecken. Wie sagte doch Emil Zatopek: „Vogel fliegt, Fisch schwimmt, Mensch läuft.“

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