So viel Kritik muss sein: Jan-Paul Koopmann über den Comic „Ideal Standard“: Der Komplex mit dem Sex
Am Sex liegt es nicht. Davon hat Krankenschwester Claire nämlich reichlich und meistens läuft es im Bett auch ganz gut. Zumindest sieht es im Comic „Ideal Standard“ so aus, wo sich auf den ersten Seiten von Panel zu Panel die Partner und Stellungen abwechseln. Nur: Glücklich ist Claire trotzdem nicht, weil sie doch eigentlich lieber was Festes hätte – und Kinder. Vielleicht.
Klar, so richtig neu ist das Thema nicht. Das Liebesleben der Thirtysomethings läuft im Fernsehen rauf und runter, auch im Comic ist „Slice of Life“ längst ein stabiles Marktsegment neben Superhelden, Science Fiction und so weiter. Und trotzdem ist Aude Picaults Comic, den sie heute Abend im Bremer Institut Français vorstellt, weit mehr als Genreroutine.
Zum einen ist das so, weil die Geschichte so viel besser erzählt ist als der Durchschnitt. Und zum anderen, weil Picault sich dieser aufmunternden Pädagogik verwehrt, die – zweifellos gut gemeint – so tierisch nervt. Das mit dem Gewicht zum Beispiel: Da schläft Claire mit einem Typen, sitzt auf ihm und muss die ganze Zeit an ihre gerade Haltung denken:„ …sonst siehst du aus wie’n Rollmops.“ Und hinterher war es dann gerade dieser Sex, den Claires Liebhaber „superschön“ findet und aus dem schließlich ihre erste längere Beziehung wird. Immerhin drei Jahre geht es gut mit den beiden. Und die Botschaft dieser Bettgeschichte: Manchmal läuft es eben eher so mittel – und es wird auch wieder besser.
Picaults Gefühl für Zwischentöne macht den Comic so großartig: Liebe ist kompliziert, Beziehungen manchmal ätzend, keine zu finden, aber noch schlimmer. Eine Abtreibung ist kein Weltuntergang, aber darum noch lange keine harmlose Selbstverständlichkeit. Und: Kinder sind nicht alles. Man kann sie wirklich richtig gerne haben wollen und muss trotzdem nicht bereit sein, jeden Preis dafür zu bezahlen. Die Erzählung mag lustig sein, aber die Sache ist todernst.
Dabei ist „Ideal Standard“ keiner von diesen Kunstcomics, die den Markt derzeit überfluten, sondern ein klassischer Cartoon. Darum überrumpelt einen die Intimität der Charakterzeichnung ja auch so. Picaults Stil ist karikaturenhaft überzeichnet, dezent koloriert in gelb und blau. Ein bisschen wie das HB-Männchen, nur eben als Frau, die sich meist pointenfrei durch den Alltag kämpft und diese lustigen Grimassen zieht, ohne die sich Wimperntusche offenbar nicht auftragen lässt.
Naja, und sie ist eine Frau, die mit (ich glaube, es waren sieben) Männern schläft, ohne sich darum mit moralischen Quatschfragen zu quälen. Die Zeichnungen sind eindeutig, aber nicht pornografisch, höchstens ein bisschen erotisch. Wären Wort und Sache nicht bedauerlicherweise aus der Mode gekommen, würde man vielleicht „frivol“ dazu sagen. Es braucht jedenfalls ein bisschen, bis die Härte des Stoffs durch die scheinbar leicht dahingezeichneten Bilder dringt. Aber dann auch so richtig.
Aude Picault: Ideal Standard, Reprodukt, 2017, 160 Seiten, Hardcover, 24 Euro
Buchvorstellung: 19 Uhr, Institut français Bremen, Contrescarpe 19
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