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So viel Kritik muss sein: Jan-Paul Koopmann über „Zeitstempel 80 x 90“Die Liebe in Zeiten der Perestroika

Glücklich sehen sie aus unter diesen Bäumen, wie sie irgendwo in der Sowjetunion in dicken Mänteln tanzen und mit den Handtaschen wirbeln. Wo genau Grygoriy Okun diese Fotos geschossen hat, ist nicht ganz klar. Er ist ja weit gereist damals: von Lettland bis ans Schwarze Meer, weiter zum Kaukasus. In den Jahren der Perestroika hat er die Menschen auf der Straße porträtiert, während drumherum die Welt in Trümmer fiel.

Grygoriy Okun stammt aus der Ukraine, wo er sich das Fotografieren selbst beigebracht hat. Seit 2003 lebt er in Bremen, wo er auch seinen Perestroika-Bildband „Zeitstempel 80 x 90“ im Selbstverlag veröffentlicht hat. Am heutigen Freitag eröffnet eine Ausstellung mit 70 dieser Fotografien im Wall-Saal der Stadtbibliothek.

Eine Untergangsgeschichte erzählt Okun dabei nicht. Zwar ist den heruntergekommenen Gebäuden und den kümmerlich bestückten Marktständen anzusehen, wie der freiere Markt die stagnierte Sow­jetwirtschaft erledigt, statt ihr auf die Beine zu helfen, doch die Menschen, um die es Okun vor allem geht, schauen sonderbar gelassen und schwer zu deuten.

Auf den ersten Blick konnte man es noch für eine Abrechnung halten. Ein Haufen Schrott türmt sich zwischen zwei Schuppen auf, hinter denen ein kyrillisches Banner prangt: „Alles, was die Partei geplant hat“, steht da. Es wirkt wie arrangiert, ist aber doch ein Blick in den Alltag, der eben immer noch stattfindet. Das gilt für die Feiernden im Park wie für die Frauen auf dem Markt: Die scherzen mit dem Mann hinter der Kamera und bleiben locker auf ihren Holzkisten sitzen, wo gegenüber die Plattenbauten aufragen.

In Okuns Bildern treffen Klischee und Authentizität direkt aufeinander. Sein Blick auf die Sowjetgesellschaft ist so gar nicht am Effekt interessiert. Ganz anders als etwa jene berühmten Fotos, die Miron Zownir nur wenig später in Moskau geschossen hat: von Leichen und fast toten Obdachlosen, die in Moskau auf der Straße rumlagen.

Die Lebensumstände haben auch Okuns Arbeit geprägt: Bereits das Essen war kaum bezahlbar, Filme erst recht – und für vernünftiges Fotopapier musste man aus dem ukrainischen Charkiw gut 750 Kilometer nach Moskau fahren. Dazu kam die Zensur: Okun zählt zur zweiten Generation der „Kharkiv School of Photography“, die sich als avantgardistische Strömung dem Sozialistischen Realismus verweigerte, ohne dafür aber westlichen Stilen hinterherzulaufen. Für hiesige Sehgewohnheiten ist etwa bemerkenswert, wie unvermittelt das klassische Porträt sich zu seinen Hintergründen verhält – ohne dabei zufällig oder gar deplatziert zu wirken.

Es entsteht ein tatsächlich deutungsoffenes Spiel von Nähe und Spontanität: intime Blicke auf Menschen, die eben nicht nur Objekte großer Weltgeschichte sind. Ihre persönliche Aufbrüche sind dann doch wichtiger. Es wird viel geheiratet auf diesen Fotos, oder offensichtlich frisch verliebt am Strand gekuschelt. Einige der fröhlichsten Menschen sind ausgerechnet in der Abteilung „Grauer Alltag“ zu sehen.

Vernissage: Freitag, 6. 9., 18 Uhr, Wall-Saal der Zentralbibliothek, Ausstellung bis 5. 10.

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