piwik no script img

So eine Art Lotti Huber, nur jünger

■ Suchterzeugendes von Lubricat: Silvia Kesselheim in „Silvi blüht“

Die Frau hat feuerrotes Haar und könnte 45 sein, aber auch Mitte 30. Ihr Gesicht ist stark mit Schminke konturiert, ihr Gang der einer Primaballerina. Obwohl sie keine mehr ist. Und wenn sie redet, redet ihr gesamtes Gesicht: die Augen katastrophal weit aufgerissen, der Mund grimassiert, wachsweiche Blicke und schneidendes Lippenschürzen. Die Frau heißt im Stück „Silvi blüht“ und im wahren Leben Silvia.

Im Stück spielt Silvi einen gewesenen Star, der sich selbst und das Leben erklärt: Wer bin ich? Im wahren Leben hat Silvia Kesselheim („Ich bin planmäßig verrückt“) als Primaballerina der Deutschen Oper und als Protagonistin des modernen Tanztheaters die halbe Welt bereist, mit Pina Bausch und Gerhard Bohner gearbeitet, zuletzt in Hamburg und Berlin auf Kampnagel und in der Volksbühne Erfolge gefeiert. Zeit ihres Lebens war die Kesselheim auf Applaus abonniert. Jetzt bildet sie zusammen mit Armin Dallapiccola die 1989 in Bremen gegründete Tanztheatergruppe Lubricat; ihr neuestes Stück haben sie mit dem Theater zum Westlichen Stadthirschen koproduziert.

„Silvi blüht“ ist ein autobiographisches Stück, denn Silvi und Silvia verschmelzen unter Dirk Cieslaks brillanter Regie. Irgendwann weiß man nicht mehr, wer da redet: die echte oder die falsche. Silvisilvia ist eine Art Lotti Huber, nur jünger. Sie quasselt unentwegt, aber sie belästigt uns nicht damit. Sie rollt ihren Seelenteppich vor uns aus, aber er erstickt uns nicht. 80 Minuten vergehen wie im Flug, und am Ende hat man eine gefühlsechte Achterbahnfahrt absolviert.

Silvisilvia vollführt eine Liebeserklärung an sich selbst. Keine größenwahnsinnige, sondern eine sympathisch proletarische. Seitdem sie singt – und wie sie singt! –, sei ihr Busen größer geworden (eine Blumenverkäuferin auf Hamburgs Jungfernstieg habe ihr unlängst einen „Spreizbusen“ attestiert). Zum Lachen und zum Heulen: Dauernd fällt Silvisilvia hin oder stößt sich das Knie oder rutscht „irgendwie bekackt“ aus. Sie haßt Leute, die jeden Satz mit „ne!“ versiegeln und knetet dabei den nackten Bauch des Honecker- Imitats Armin Dallapiccola: „Ich spiele so gerne Schwester Erika“, zischt sie orgiastisch. Und ihr Décolleté verrückt das Kassengestell des armen Armin.

Silvisilvias Auftritt changiert zwischen verbaler Peep-Show und „Tagesschau“-Moderation: Hinter jeder Lebensweisheit verbirgt sich ein Abgrund von Tragikomik. Zum Totlachen: Die ausgediente Ballerina nimmt Platz auf einem fabrikneuen türkischen Gebetsschemel und schwärmt ausladend von „einem Bild von einem Mann“. Aber weil „die Lust ja nicht zu dürfen ist“ und zu vieles Sitzen zu „Wellfleisch“ führt, steht sie schnell wieder auf. Und probt den aufrechten Anti-Orangenhaut-Gang im Stechballerinenschritt.

Wild gestikulierend betrauert sie das Überbein hinter ihrem linken Ohr, ihre viel zu breite Nase (die dann auch noch zu breit bleibt, nachdem sie sie eine Nacht lang mit einer Wäscheklammer abgeklemmt hat). Das Leben als Star: ein einziger Alptraum. In Japan hat sie kein Mensch verstanden, wenn sie nach ihrem Auftritt mit dem Taxi ins Hotel zurückwollte. Erst als sie stoßweise „A-ka-sa-ka Tokio Hotel“ hervorpreßt und die Hände zum Gebet faltet, klappt's. In Indien verfällt sie der Konsumsucht, und nach Kalkutta bringen sie keine zehn Pferde mehr: Diese „dünnen Arme, die sich einem entgegenrecken!“

Das Kammerspiel der Lubricats, ihre zweite Produktion in Berlin, endet so furios, wie es begann: Die dralle Diva dämonisiert den Tod – und kann sich gar nicht vorstellen, „wie das sein kann: Wenn das alles einmal zu Ende ist“. Stundenlang möchte man Silvisilvia zuhören, mit ihr leiden und hassen, lachen, lästern, lieben. Faszinierend, wie sie ihr Leben in Worte gießt und nie die ironische Distanz verliert. Wie ihr Zwang zum Bekenntnis die Zuhörer in den Bann zieht! Die Lubricats spielen großes Theater. Wer Menschen liebt, muß sehen, wie „Silvi blüht“. Thorsten Schmitz

„Silvi blüht“, Koproduktion der Gruppe Lubricat mit dem Theater zum Westlichen Stadthirschen; Regie: Dirk Cieslak, mit Silvia Kesselheim und Armin Dallapiccola; weitere Vorstellungen noch bis 26.6., 1.–3.7. sowie 7.–10.7., jeweils um 21 Uhr, bei den Stadthirschen, Kreuzbergstraße 27.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen