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Smokescreen hinter Schwaden

■ 32.000 Menschen hetzen täglich durch den Londoner U–Bahnhof Kings Cross / Nach dem Feuer im Untergrund fand die Tragödie an der Oberfläche eine unrühmliche Fortsetzung / Londons Medien zeigten, was eine Harke ist

Aus London Rolf Paasch

London - Kings Cross Station. Endbahnhof für die Pendler, die jeden Morgen aus dem Großraum London mit dem Zug ihrem Arbeitsplatz zustreben. In Kings Cross wird umgestiegen, unter die Erde. Eine ganze Kleinstadt - 32.000 Menschen - hetzen im Verlauf eines Wochentages durch die röhrenförmigen Gänge von Kings Cross, um in eine der fünf sich hier kreuzenden U–Bahn–Linien einzusteigen. Abends kehren die Pendler zwischen Büro und Familie wieder nach Hause zurück. Zur Rush Hour sind es so viele, daß die letzten meist noch eines Schubes bedürfen, um sardinengleich in die silbernen Waggons gepresst zu werden, ehe die Türen automatisch hinter ihnen zuschnellen. Die Stimmung ist dementsprechend: Hektisch, ner vös, unfreundlich. Manchmal auf einer solchen Fahrt, aneinandergedrückt und die Gerüche des Nachbarn einatmend, kommen einem sonst verdrängte Gedanken: was wäre wenn... Zusammenstoß, Stromausfall, Feuer... Nicht auszudenken. Am Mittwochabend nach 19 Uhr wurden diese Gedanken dann zur Realität. Es waren Spätheimkehrer aus dem Büro oder Kinobesucher, die auf der hölzernen Rolltreppe der Picadilly Line wie am Schnürchen gezogen in die Schalterhalle hinaufglitten, als sie plötzlich in eine Rauchwolke fuhren. Was anders, als Panik hätte die Folge sein können? Von unten drückten die Fahrgäste nach, die von den Zügen immer noch ausgespuckt wurden. Nachdem die meisten dem Inferno unverletzt entkommen konnten, nachdem klar geworden war, daß 33 Menschen Opfer der Flammen geworden waren, verlagerte sich der Schauplatz an die Oberfläche. Während die geborgenen Toten in schwarzen Plastiksäcken noch in die Unfallwagen verladen wurden, reckten sich den Noch–einmal–Davongekommenen bereits die ersten Mikrophone entgegen. Menschliche Tragödien frisch auf den Bildschirm, vor blaulichterhelltem Hintergrund. Trotz Sprachlosigkeit und Bestürzung spielen die Beinahe–Opfer mit. Emotionale Betroffenheit wird von aufdringlichen und saudummen Reporterfragen unterbrochen. Instant–Analyse - mit dem Versuch der Wahrheitsfindung hat dies alles nichts zu tun. Die Briten sprechen in einem solchen Fall von der Errichtung eines „Smokescreen“. Bleibt abzuwarten, was diesmal hinter diesem „Schirm von Rauch“ an Ursachen dieser Tragödie verborgen bleiben wird.

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