: Slam-Hit-Boom-Bang
Mit den X Games, bei US-Jugendlichen das bekannteste Sportereignis nach Olympia, ist der dem Disney-Konzern gehörende Fernsehsender ESPN auf eine Goldgrube im Trendsportbereich gestoßen
aus PhiladelphiaTOBIAS MOORSTEDT
Der Junge ist fast zu gut, um wirklich echt zu sein. Wie er da so steht, in den knielangen Shorts und dem weiten T-Shirt, das den schmalen Körper umflattert. Das Gesicht ist braun gebrannt, die Haare sind ausgebleicht von Sonne und Wind. Seine Augen sieht man nicht. Sie sind versteckt hinter einer riesigen Sonnenbrille. Auf dem linken Unterarm trägt er sein Glaubensbekenntnis: „Skateboarding is not a crime“, hat er sich mit schwarzem Filzstift darauf geschrieben. Der Junge ist perfekt. Und fast wirkt es so, als sei Jaime (21), Student der Betriebswirtschaften, geradewegs aus dem Katalog eines Versandhauses herausgesprungen, Abteilung Funsport, Seite 167, einfach so, nur um mal zu sehen, wie die Welt da draußen wirklich ist.
Es ist eine Welt, die geschaffen scheint für einen wie Jaime. Zumindest hier, in Philadelphia, wo vergangene Woche zum achten Mal die „X Games“ stattfanden, das „Olympia des Trendsports“, mit den Disziplinen Skateboarden, Inlineskaten, BMX und Motocross. Das X im Namen der Sportspiele steht für „extrem“. Und das soll man auch sehen. Auf den ersten Blick.
Zum Beispiel Jason Grob. „Rock and Roll“, schreit Grob, nachdem er die Goldmedaille im Inlineskaten gewonnen hat. Dann reißt sich der 21-Jährige aus Utah die Kleider vom Leib, schmeißt sie in die Menge und spielt in der Unterhose Luftgitarre. Oder Robbie Miranda, der Goldmedaillengewinner des BMX-Downhill-Wettbewerbs, der auf dem Bauch ins Ziel schliddert, und von seinem Triumph erst erfährt, als er 20 Minuten später aus der Bewusstlosigkeit erwacht. Und der dann ganz cool sagt: „Hier geht es weniger ums Gewinnen, sondern mehr ums Überleben.“
Im schillernden Kleid
An normalen Tagen wird im First Union Center in Philadelphia Eishockey oder Basketball gespielt. Doch für die X Games hat sich der graue Entertainment-Komplex, diese Mischung aus Einkaufszentrum, Kino und Stadion, in ein schillerndes Kleid geworfen. Auf den großen Bildschirmen, die an jeder Ecke des Geländes platziert sind, flimmern große Momente der vergangen X Games in Endlosschleife. Aus den Lautsprechern dröhnt harter New-Metal-Sound. Skateboards sind das bevorzugte Fortbewegungsmittel. Es ist die perfekte Kulisse für ein Trendsportevent. Alles passt zusammen. Von der Bühne ruft ein Moderator: „Kommt mal bitte alle her. Wir brauchen eine große Menschenmenge. Wir wollen das im Fernsehen zeigen.“ Denn die X Games sind nicht nur eine weitere Sportveranstaltung, die vom Fernsehen übertragen wird. Das Fernsehen macht die X Games. Der amerikanische Sportsender ESPN, Teil des Disney-Medienkonzerns, hat den Wettbewerb 1995 erfunden, um Einlass zu finden, in das rapide wachsende Marktsegment der Trendsportarten. Für die Inszenierung von Spaß und Abenteuer braucht ESPN auch Jugendliche wie Jamie. Sie sind die Statisten in diesem Real-Life-Werbespot. „Make some noise“, dröhnt es regelmäßig aus den Lautsprechern. Es klingt wie eine Regieanweisung. Denn die Fernsehleute brauchen ein enthusiastisches Publikum als grelles Hintergrundbild für die spektakulären Stunts der Sportler. Auch für richtige Maske ist gesorgt: am Eingang können sich die Skateboard-Fans eine Tätowierung auf den Arm kleben oder die Haare färben lassen. „Jugendliche konsumieren Sport ganz anders als die älteren Zuschauer“, erklärt Artie Bulgrin, Vizepräsident für Marketing bei ESPN, die Strategie seines Senders. „Die kommen aus einer Videospielkultur, wo alles Slam-Hit-Boom-Bang gehen muss.“
Autonome Subkulturen
Um diese Generation kennen zu lernen, betrat Ron Semiao, der Programmdirektor von ESPN2, im Frühling 1993 einen Zeitschriftenladen. Semiao wollte die Sports Illustrated für Extremsportler kaufen. Denn schon lange machten Konzerne wie Gillette oder AT&T Werbung mit dem Image der Trendsportarten. Semiao witterte ein Geschäft. Doch zu seiner Überraschung gab es noch kein Leitmedium des Extremsports, die Szene war in autonome Subkulturen zersplittert. „Wer es schafft, die Trendsportszene zu vereinen“, dachte sich Semiao, „der hat eine Goldader entdeckt.“ So entstanden die X Games.
Und so sieht das dann aus: wie eine endlose Actionszene aus einem Hollywoodfilm. Denn bei den X Games geht es nicht mehr um den sportlichen Wettbewerb, sondern um den telegenen Moment. Um den X Moment, wie man es bei ESPN nennt. Es geht nicht um Leistung, nicht um Geschicklichkeit, nicht einmal um die Geschwindigkeit. Es geht um diesen einen, kurzen Moment, in dem der Sportler die Schwerkraft überlistet.
Und Semiao ist wirklich auf Gold gestoßen. Laut dem Branchenmagazin Sports Business Journal sind die X Games in der Altergruppe 14 bis 29 die zweitbekannteste Sportveranstaltung. Nach Olympia. Und noch vor der Super Bowl. Das Konzept ist so erfolgreich, dass die X Games, und damit ESPN und Disney, in den USA mittlerweile untrennbar mit den Trendsportarten verbunden sind.
„Wer in diesem Markt etwas erreichen will“, schrieb die New York Times vor einem Jahr, „der muss zu den X Games kommen. Bist du nicht dort, dann bist du nichts.“
Die ganze Kollektion
Ein Event zu besitzen, ist für einen Medienkonzern ideal. Man muss sich keine Sorgen um die Senderechte machen, man bestimmt die Regeln, den Schauplatz und den Stil der Veranstaltung. Außerdem ist die gesamte Verwertungskette vom eigenen Konzern besetzt. Und deshalb gibt es mittlerweile bei dem US-Modegiganten JC Penny’s eine eigene X Games-Kollektion. Es gibt die offizielle CD, Computerspiele und einen Kinofilm.
In allen diesen Produkten gibt es eine Hauptfigur: Tony Hawk. ESPN hat die lebende Skateboardlegende mit einem Exklusivvertrag an den Sender gebunden, um der Retorten-Veranstaltung einen Hauch von Glaubwürdigkeit zu verleihen. Und Tony Hawk ist ein guter Botschafter. „ESPN hat uns die Möglichkeit gegeben, zur besten Sendezeit im Fernsehen aufzutreten und ganz neue Bevölkerungsschichten zu erreichen“, sagt Hawk, „der Sport konnte somit sein schlechtes Image korrigieren. Ich bin froh, wenn Skateboarden jetzt als positiver Einfluss wahrgenommen wird. Es war nie etwas, das ich gemacht habe, um zu rebellieren.“
Tony Hawk ist die ideale Symbolfigur für die X Games. Er ist verrückt genug, um in der Halfpipe waghalsige Saltos zu schlagen, er trägt manchmal weite Hosen und macht komische Gesten mit seinen Händen. Doch er bleibt trotzdem ein guter Amerikaner. So sind die X Games: ein Familienausflug in die Welt des Wahnsinns – mit angelegtem Sicherheitsgurt. Die rote und grüne Farbe in den Haaren der Kinder ist schließlich abwaschbar.
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