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Skandinavien und die EG: Nein, aber...

Sozialdemokraten aus EFTA und EG tagen in Berlin / EG-Debatte in Norwegen und Schweden / Wirtschaft drängt nach Brüssel / Gewerkschaften: „Anschluß nicht verpassen“  ■  Aus Stockholm Reinhard Wolff

Wollte man allein die Flut von Zeitungsartikeln, Broschüren, Büchern zum Maßstab nehmen: der Beitritt Norwegens und Schwedens zur EG schiene unmittelbar bevorzustehen. Die für 1992 vorgesehene Verwirklichung des freien Binnenmarktes innerhalb der EG ist es, was die Sprachrohre der Wirtschaft innerhalb und außerhalb der Parlamente ihre Botschaft beständig wiederholen läßt: der Europazug dürfte nicht ohne die Skandinavier abfahren.

Die konservativen Parteien stehen vorbehaltlos hinter den Wirtschaftsverbänden. Die regierenden Sozialdemokraten in beiden Länden tun sich noch schwerer, stehen aber unter zunehmendem Druck durch die Gewerkschaften. Regelmäßige Treffen der Parteiführungen aus den Ländern der EG und der EFTA sollen in Zukunft offensichtlich dabei helfen, eine gemeinsame Linie festzuklopfen. Das erste dieser Treffen findet am 6. und 7.November in Berlin staat, mit dem schwedischen Ministerpräsidenten Carlsson und seiner norwegischen Kollegin Brundtland.

Die offizielle Linie der EFTA liegt fest: Gemeinsames Vorgehen der noch übriggebliebenen Mitglieder dieser Freihandelszone - neben den skandinavischen Ländern (außer Dänemark) die Schweiz und Österreich - bei Verhandlungen mit der EG. Tatsächlich zeichnen sich Alleingänge und klare Prioritäten schon deutlich ab.

Den „Anschluß nicht verlieren“ - dieses Motto prägt seit Monaten die Debatte in Schweden und Norwegen. In Finnland herrscht demgegenüber als einzigem nordischen Land weitgehend Schweigen. Erst letzte Woche verlautbarte Staatspräsident Koivisto, Finnland werde auch in überschaubarer Zukunft keine Mitgliedschaft in der EG suchen. Finnland habe eine ganz spezifische Art der Neutralität zu verteidigen. Der mächtige Nachbar im Osten blieb unbenannt, war damit aber gemeint.

Norwegen und Island haben als Nato-Mitglieder irgendwelche außenpolitische Rücksicht nicht zu nehmen. Norwegen wäre zusammen mit Großbritannien, Irland und Dänemark 1972 fast schon EG-Mitglied geworden, doch der Ausgang einer Volksabstimmung machte den Politikern einen Strich durch die Rechnung.

Befürworterquote steigt

Dabei stehen die Zeichen für die Brüssel-Freunde heute günstiger als je zuvor. Die wirtschaftliche Abhängigkeit Norwegens von der EG ist gewachsen, 70 Prozent aller Exporte gehen in EG-Mitgliedsländer. Vor allem die Holz- und Fischereiwirtschaft wäre ohne die - aufgrund des Freihandelsabkommens zollfreien - Ausfuhren in den EG -Bereich schon lange nicht mehr lebensfähig. Sogar die Befürworterquote innerhalb der Bevölkerung ist in den vergangenen Jahren langsam, aber konstant auf über 40 Prozent gestiegen.

Daß die EFTA für Norwegen den Vorzug behalte, wie Ministerpräsidentin Brundtland vergangenen Mittwoch vor dem Europaparlament in Straßburg unterstrich, darf ganz sicher nicht als Festlegung über 1992 hinaus verstanden werden (dem Zeitpunkt, bis zu dem die EG nach Ansicht der Regierung kein neues Mitglied aufnimmt). Mit ihrer eigenen Begründung machte sie dies deutlich: Das „Trauma“ der Volksabstimmung von 1972 sei das Haupthindernis. Also nicht etwa die Auswirkungen auf die teilweise progressive Umweltschutzgesetzgebung des Landes wie regionalpolitische Konsequenzen: am nördlichsten Ende der EG zu liegen, würde alle Bemühungen, die Entvölkerung und Verarmung Nordnorwegens zu stoppen, noch hoffnungsloser machen.

Die Front der standhaften Neinsager läuft - ähnlich wie 1972, als die Arbeiterpartei an der EG-Frage fast auseinandergebrochen war - quer durch das Lager der Sozialdemokraten, um sich dann in einer seltsamen Koalition aus rassistischer Fortschrittspartei und linkssozialistischer Venstre wiederzufinden.

Argument vorgeschoben

Der Fortgang der Diskussion in Norwegen wird für die schwedische Haltung von entscheidender Bedeutung sein - und umgekehrt. Zumindest, solange in beiden Ländern Sozialdemokraten das Sagen haben, wie derzeit. Vorwiegend spielt sich die Debatte in Schweden aber noch im Bereich der Neutralitätsthematik ab. Nach offizieller Lesart ist es „unvorstellbar“, daß Schweden auch nur ein Stück seiner außenpolitischen Handlungsfreiheit an ein supranationales Gremium abgebe.

Nicht nur in Brüssel wird diese Argumentation in Frage getellt. Schweden ist schon jetzt, ohne besondere Bauchschmerzen damit zu haben, Mitglied einschlägiger internationaler Organisationen, beispielsweise im GATT und im Internationalen Währungsfonds. Und sollen Konsultationen auf außenpolitischem Gebiet innerhalb der EG ernstlich gefährlicher für die Neutraliätspolitik des Landes sein als der schwedische Waffenhandel?

Ein guter Teil des Neutralitätsarguments ist also vorgeschoben. Vielleicht auch, um sich so teuer wie möglich zu verkaufen. Außerdem: so lange es geht, kann man ja erst einmal als Nichtmitglied die Vorteile des freien Marktzugangs durch Freihandelsabkommen genießen, ohne die finanziellen Lasten einer Vollmitgliedschaft - und das sind insbesondere die immensen Kosten der EG -Landwirtschaftspolitik - tragen zu müssen. „Schmarotzertum“ war hierzu schon aus Brüssel mit Blickrichtung Stockholm zu hören. Und für den ersten ausländischen Apfel gibt es jedes Jahr erst dann eine Einfuhrgenehmigung, wenn der letzte einheimische vermarktet ist. Würde dies umgekehrt für die Ausfuhr von Volvos und Saabs gelten, würde man sich in Schweden schön bedanken.

Vor allem Verschlechterungen erwarteten die schwedischen Gewerkschaften von der EG - noch bis vor einigen Monaten. Nach Sommerpause und für die Sozialdemokraten erfolgreichen Parlamentswahlen hat sich dies auffallend geändert. Jetzt rückt plötzich der mögliche „Preis“ in den Vordergrund, den Schweden für ein Verbleiben außerhalb des EG-Binnenmarktes zu zahlen hätte: Höhere Arbeitslosigkeit, einen niedrigeren Lebensstandard und ein deutlich höheres, noch höheres, Preisniveau. Töne, die denen der Wirtschaftsverbände schon verdächtig nahe sind. Ausgeklammert bleibt in dieser Argumentationskette seit neuestem das Negativbeispiel Dänemark: EG-Mitgied seit 1972, mit einer in Skandinavien rekordhohen Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung.

Koalition gegen Alkohol

Arbeitszeit, Urlaubsanspruch, Arbeitnehmerfonds, Mitbestimmung, Arbeitsschutz: Alles Bereiche, in denen die Errungenschaft der skandinavischen Gewerkschaftsbewegung ganz oben stehen innerhalb Europas. EG heißt auch Anpassung. Anpassung an das (hohe) schwedische Niveau können die schwedischen Gewerkschaften aber ganz sicher nicht drchgängig erwarten. Also Abstriche am bisher Erreichten? Orientierung am „Süd-Niveau“? Noch bis vor kurzem unvorstellbar.

Auf parlamentarischer Ebene finden sich die EG-Gegner (linke Sozialdemokarten, Linkspartei-Kommunisten und Teile der Grünen) auch in Schweden in eigentümlicher Gesellschaft wieder. Eigentümlich allerdings nur, wenn man sich in den Höhen und Tiefen der schwedischen Abstinenzler-Bewegung nicht so gut auskennt.

Schweden hat eine streng reglemenierte Alkoholpolitik. Alles Hochprozentige - und dazu zählt schon „normales“ Bier (nur „Leichtbier“ gibt es frei zu kaufen) - gibt es nur im staatlichen Alkoholladen. Zu horrenden Preisen, die vor allem vom Kauf abschrecken sollen. Diese - nur historisch zu erklärende - Politik hat zwar nicht dazu geführt, daß sich der totale Alkoholkonsum der Schweden wesentlich vom Durchschnitt in den EG-Ländern unterscheidet. Aber die Begrenzung des Alkoholhandels ist eine heilige Kuh, an die sich noch auf längere Sicht keine Regierung wagen kann. Der Einfluß der Abstinenzlerbewegung geht quer durch alle Parteien, und eine Kolation ihrer Repäsentanten aus allen politischen Lagern ist sich in einem sicher: EGfreier Alkoholhandel. Wozu keine große Prophetie gehört.

Trotz allem, die Richtung liegt fest. Vorgegeben von den Multis in der sowieso schon hochkonzentrierten schwedischen Industrielandschaft. Sie haben durch ihre internationalen Verflechtungen und Tochtergesellschaften den gemeinsamen Markt für sich schon vorweggenommen.

Die EG-Hauptstadt wird im übrigen sinnigerweise derzeit von schwedischen Grundstücksfirmen aufgekauft. Innerhalb von weniger als einem Jahr haben sie dort über 500 Millionen Mark investiert und damit sechs Prozent des gesamten Bestands an Büroräumen erworben. So sind die Schweden schon jetzt die größten ausländischen Grunstückseigentümer in Brüssel geworden. Das Mietniveau hat sich aufgrund dieses Booms vedoppelt. Der angeblichen Angst der schwedischen Industrie vor der EG entspricht in Brüssel mittlerweile eine Angst vor den Schweden.

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