Skandal in spanischen Kinderheimen: Gequält, Gefesselt, Geschlagen
Laut einem Bericht des "Anwalts des Volkes" werden schwer erziehbare Kinder in spanischen Heimen geschlagen, sediert und sogar tagelang isoliert. Dennoch wird kaum etwas unternommen.
MADRID taz Kinder und Jugendliche, die in Spaniens Heimen leben müssen, gehen häufig durch die Hölle. Das hat dieser Tage der "Anwalt des Volkes" Enrique Múgica aufgedeckt, der in Spanien über die Bürgerrechte wacht. Aus einem knapp 500 Seiten dicken Dokument, das Múgica dem Parlament vorlegte, geht hervor, dass jugendliche Heimbewohner bis zu 72 Stunden isoliert, geschlagen, mit Medikamenten ruhiggestellt und in vier Zentren sogar gefesselt worden sind.
Manchen wurden Medikamente unter Zwangsanwendung gespritzt. In den meisten Einrichtungen müssen die Insassen ihre Briefe der Heimleitung vorlegen, bevor sie abgeschickt werden. Die Zimmer werden regelmäßig durchsucht. Und in einigen Zentren müssen sich die Jugendlichen völlig entkleiden und sich auf Drogen filzen lassen.
"Ich habe gesehen, wie ein Erzieher ein Kind brutal gegen die Wand schlug", zitiert die spanische Tageszeitung El País aus dem Brief eines Kindes. Im Dezember vergangenen Jahres erhängte sich in einem Heim in Guadalajara in der Region Castilla-La Mancha ein 12 Jahre altes Kind, das die Behandlung nicht mehr ertrug.
Der "Anwalt des Volkes" untersuchte 27 der insgesamt 58 spanischen Heime. Die betroffenen Kinder und Jugendlichen sind nicht etwa wegen einer Straftat verurteilt. Es sind schwer erziehbare und verhaltensauffällige junge Menschen, deren Erziehungsrecht nicht mehr bei den Eltern, sondern bei den Behörden liegt. Zuständig für diese Einrichtungen sind die Regierungen der spanischen Autonomien, vergleichbar den Bundesländern. Jedoch nur zwei der überprüften Heime unterstehen direkt den Behörden. Die übrigen werden von privaten Stiftungen geführt, aber von der öffentlichen Hand finanziert.
Die harten Strafen werden oft deshalb verhängt, weil "die Jugendlichen den Erziehern widersprechen", heißt es im Bericht. Manche Kinder würden mit Medikamenten so stark sediert, dass die Lehrer mit ihnen nicht arbeiten könnten.
Es gibt keine für alle Heime gültigen Regeln. Jede Einrichtung bestimmt selbst, welche Strafen sie bei welchen Regelverstößen anwendet. Es sei viel von "kreativen erzieherischen Maßnahmen" die Rede, doch versteckten sich dahinter "zumeist reine Strafmaßnahmen", wieMúgica kritisiert.
In den meisten Heimen ist die Bezahlung so schlecht, dass nur minderqualifiziertes Personal eingestellt werden kann. Die Angestellten wechseln sehr oft. "Ein Vertrauensverhältnis zwischen Erziehern und Jugendlichen kann so nicht entstehen", klagt ein Heimmitarbeiter anonym gegenüber der Presse.
Einige Regionalregierungen wussten schon länger über die Zustände in den Heimen Bescheid, unternahmen aber nichts dagegen. So ignorierten die zuständigen Stellen in Madrid und Castilla-La Mancha in den letzten zwei Jahren immer wieder Untersuchungen seitens des "Anwaltes des Volkes". Auch Beschwerden von Angestellten verschiedener Heime verschwanden umstandslos in der Schublade.
Selbst jetzt, wo die Einrichtungen für Schlagzeilen sorgen, unternehmen die Regionalregierungen kaum etwas. Nur in der Mittelmeerregion Valencia wurde eine Untersuchung in zwei Heimen eingeleitet. Die restlichen Autonomieregierungen mauern. Deshalb hat nun die Zentralregierung in Madrid die Staatsanwaltschaft beauftragt, die Situation in den Heimen zu untersuchen. Auch wenn diese nicht direkt in ihren Zuständigkeitsbereich fallen, könne die Regierung "bei solch schweren Vorwürfen nicht untätig bleiben", begründete Bildungs- und Sozialministerin Mercedes Cabrera diesen Schritt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Sport und Krieg in der Ukraine
Helden am Ball