piwik no script img

Sittenverfall auf den Berliner Straßen

■ Westberliner Promille-Sünder machen den Osten unsicher / Ostberliner Autofahrer bedrohen Radler im Westen

Berlin. Als erstes trifft es natürlich die Schwächsten. Radlerin Kerstin Carlberg vom Allgemeinen Deutschen Fahrrad -Club in West-Berlin kommentiert das wachsende Chaos auf den Berliner Straßen so: „Wir haben alle keine Lust mehr, öfter mit dem Rad zu fahren.“ Die Radfahrer sind die Opfer beim täglichen Nahkampf auf den Straßen. Und die Autos rücken den Pedaltretern immer enger auf die Pelle. Vor allem DDR -Lenker, ohnehin im „Geschwindigkeitsrausch“, überholen „ziemlich dicht“, hat Carlberg erlebt. Radwege seien DDR -Bürger „nicht gewohnt“, ergänzt die Rad-Lobbyistin. Beim Rechtsabbiegen passiere es deshalb schnell, daß ein Zweiradfahrer unter dem Zweitakter landet. Um so schlimmer, daß immer mehr Trabantfahrer auf westliche Marken umsteigen: Jetzt könne man als Radfahrer gar nicht mehr abschätzen, ob von der Autofahrbahn Gefahr drohe, klagt Kerstin Carlberg.

„Die Rücksichtslosigkeit, greift um sich“, zieht die Radlerin Bilanz, „wie schon lange nicht mehr.“ Denn eine bleibende Folge hatte die friedliche Revolution des letzten Herbstes auf alle Fälle: Die Straßenverkehrsordnung ist nicht nur in Ost-Berlin, sondern auch im Westteil der Stadt kaum noch in Kraft. Im Kampf um jeden Zentimeter gelten Halteverbotsschilder längst nichts mehr, und auch rote Ampeln schrecken den Autofahrer immer weniger, wenn er nur eine halbe Stunde lang im Stop-and-go-Verkehr den Frust getankt hat.

Der Sittenverfall auf den Straßen macht auch der Polizei in Ost und West zu schaffen. Im Präsidium der Volkspolizei hat man in diesem Jahr einen steilen Anstieg der Unfallzahlen registriert. Bis gestern nacht, null Uhr, zählte Hans-Henry Tänzer von der Ostberliner Verkehrspolizei 3.971 Unfälle, 1.344 oder 51,1 Prozent mehr als im gleichen Vorjahreszeitraum. Die Verletztenzahl stieg um 43 Prozent auf jetzt 2.140, und nur bei den Todesopfern, die der Autoverkehr forderte, gab es in Ost-Berlin einen leichten Rückgang von 39 auf 37.

Die Ursachen, die Tänzer nennt, passen zur allgemeinen Diagnose. Zusammenstöße passieren in erster Linie dann, wenn Autolenker die Vorfahrt mißachten, zweitens wegen zu schnellem Fahren und drittens wegen Alkohol am Steuer. Gerade Promillesünder sind, wen wundert es, seit dem November mit hohen Zuwachsraten stark beteiligt - dabei besonders die Westberliner. Tänzer drückt es vorsichtiger aus: Es handele sich da um das Problem des „Aufeinanderprallens von zwei Zulassungsbereichen“.

Das tritt auch noch in anderen Bereichen auf: DDR -Automobilisten, die es gewohnt sind, trotz Rotlicht an der Ampel rechts abbiegen zu dürfen, exportieren diese Sitte auch in den Westteil der Stadt. 50 Prozent aller „Rotlichtverstöße“ in West-Berlin gehen in letzter Zeit auf das Konto der DDR-Fahrer, weiß Polizeidirektor Klaus Krüger von der Westberliner Verkehrspolizei.

Das Schöne an dieser bikulturellen Bewegungsgesellschaft: Im jeweils fremden Stadtteil können Autofahrer den eigenen Unsitten viel risikoloser frönen als zu Hause. Bußgeldbescheide können nach wie vor nicht über die Grenze geschickt werden. Krüger hat bisher vergeblich darauf gewartet, daß „irgend jemand mal dieses Verhältnis klarstellt“. Westberliner, die drüben falsch parken, müssen sich schon in flagranti erwischen lassen, damit ihnen ein Volkspolizist die 20 DM abverlangen kann, die das Falschparken gemäß Paragraph 23 der Ost -Straßenverkehrsordnung kostet. Hinzu kommt, daß die Vopos zur Zeit kaum noch Falschparker abschleppen. Der Abschleppdienst von Autotrans, der diese Aufgabe seit jeher im Auftrag der Polizei erledigte, hat mit dem 1.Juli seine Preise erhöht. Gleichzeitig klagt die Polizei über „fehlende Haushaltsmittel“.

Der Anteil der Westberliner ist folglich laut Tänzer „recht hoch“ bei den Parksündern in Ost-Berlin. Auf 6.000 bis 7.000 schätzt die Volkspolizei die tägliche Falschparkerzahl in Ost-Berlin. Damit nähert sich die Hauptstadt langsam, aber sicher dem Westniveau. Hier hat die Polizei schon 1989 eine Million Knöllchen verteilt, und trotzdem schätzt Krüger, daß nur ein „geringer Anteil der Gesamtzahl der Verstöße“ erfaßt wurde.

„Der Trend ist permanent steigend“, klagt der Polizeidirektor. Die Ursache liegt für ihn auf der Hand: Bei ständig steigenden Neuzulassungen auf einer weitgehend konstanten Straßenfläche werde der „Verteilungskampf immer größer“. Gerne hätte die Westberliner Verkehrspolizei Abstellflächen am Stadtrand, wohin sie nach dem Vorbild anderer Städte falsch geparkte Karossen abschleppen könnte. Der Parksünder könnte seinen Wagen nur abholen, wenn er gleich bezahlte, der „Verwaltungsweg“ ließe sich sehr „vereinfachen“. Doch leider fehlt es auch an Flächen am Stadtrand, die als Abstellplätze in Frage kämen - nicht nur an freien Parkplätzen.

Auch die Laternengaragen im Todesstreifen, die dank der Maueröffnung in vielen grenzüberschreitenden Straßen über Nacht entstanden und prompt von Westberliner Karossen besetzt wurden, brachten wenig Linderung. Schließlich explodierte gerade in Ost-Berlin nach dem 1. Juli die Zahl der Neuzulassungen. 17.000 Autos wurden nach Tänzers Angaben in der Hauptstadt in diesem Monat neu zugelassen ebensoviele wie sonst in einem ganzen Jahr. Bis zum Jahresende wird die PKW-Zahl in Ost-Berlin um weitere 38.000 auf dann etwa 420.000 ansteigen, schätzt Tänzers Chef Günter Voß, Leiter der Verkehrspolizei in Ost-Berlin. Damit wäre der Motorisierungsgrad in Ost-Berlin praktisch ebenso hoch wie im Westteil der Stadt, wo etwa 750.000 Privatautos unterwegs sind. Die Horrorzahl von 1,2 Millionen Autos in Ganz-Berlin ist dann kein Alptraum mehr - sondern Realität.

hmt

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen