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Singapurs IntegrationskonzeptMultikulti wird zur Norm werden

Ein Blick nach Singapur zeigt, wie Integration funktionieren kann. Neben Wohnung und Arbeit spielt die interkulturelle Begegnung eine wichtige Rolle.

Ein volles Boot als Vorbild: In Singapur wird Gemeinschaft aktiv gelebt Foto: Katja Gendikova

S eien wir einfach mal realistisch und erinnern uns an Goethes Zauberlehrling, der mit Schrecken erkennt: „Die ich rief, die Geister, werd’ ich nun nicht los.“ Pauschal jemanden loswerden, abgesehen von den Kriminellen, kann ohnehin nicht funktionieren, denn die demografische Entwicklung Europas ist eindeutig und konstant negativ. Die Geburtenraten sinken, die alteingesessene Bevölkerung schrumpft, die Alten werden immer älter, die Babyboomer gehen in Rente, aus Fachkräftemangel wird Arbeitskräftemangel. Schmutzige Jobs will ohnehin niemand mehr machen, die Wirtschaft stagniert.

Mit der Integration seiner Migranten tut sich Europa schwerer als klassische Einwanderungsländer wie die USA. Aus dem „Schmelztiegel“ ist dort längst eine allgemein akzeptierte „Salatschüssel“ geworden, oft mit ethnischen und sprachlichen Parallelgesellschaften. Auch wenn US-Präsident Donald Trump aktuell versucht, illegale Einwanderer auszuweisen, zeigen gerade die amerikanischen Erfahrungen, dass eine selektive Einwanderungspolitik schwer durchzuhalten ist.

Schon bei den riesigen Migrantenströmen des 19. Jahrhunderts waren bestimmte Gruppen alles andere als willkommen. Mafiosi aus Italien, Sozialisten aus Deutschland, verarmte Iren und später auch Juden waren suspekt, und Chinesen waren von 1882 bis 1943 per Gesetz ganz ausgeschlossen. Vor allem durch den massiven Zustrom von Asylbewerbern sind inzwischen die meisten Länder Westeuropas bei einer Migrantenquote zwischen 15 und 20 Prozent angekommen, die Schweiz sogar bei fast 30 Prozent.

Allerdings haben die Eidgenossen die Einwanderung deutlich pragmatischer organisiert als Deutschland. Eine Ghettobildung wurde gezielt vermieden, die Asylverfahren wurden beschleunigt, die „Asylsozialhilfe“ ist knapp bemessen und besteht weitgehend aus Sachleistungen. Durch eine „Vorlehre“ wird die Aufnahme in den Arbeitsmarkt und in die duale Berufsausbildung erleichtert, und durch eine Reihe von ­Migrationspartnerschaften mit den Herkunftsländern wurde die Rückführung abgelehnter Asylbewerber erfolgreicher – um nur die wichtigsten Elemente zu nennen.

Wolfgang Sachsenröder

ist Journalist und Politikberater. Er lebt seit 2009 in Singapur und publiziert u. a. im Institute of Southeast Asian Studies.

Chancengleichheit für alle Gruppen

Im Rest Europas hat der Stimmungsumschwung von anfänglich auch großer privater Hilfsbereitschaft zu Angst vor Überfremdung und Kriminalität das politische Klima deutlich nach rechts verschoben. Mittel- und langfristig haben wir aber alle das gleiche Problem, nämlich wie wir den Übergang von einer historisch fast homogenen zu einer multikulturellen Gesellschaft organisieren können.

Wie sehr dabei Integration und soziale Balance eine Daueraufgabe sind, zeigt das Beispiel der multiethnischen, multilinguistischen und multireligiösen Gesellschaft des Stadtstaates Singapur. Als Singapur 1965 unerwartet von der Malaysischen Föderation in die Unabhängigkeit gestoßen wurde, stand neben dem wirtschaftlichen Überleben vor allem die Frage im Raum, wie die große chinesische Mehrheit von 75 Prozent mit den malaiischen und indischen Minderheiten in Frieden auskommen könnte.

Denn in den 1960er Jahren kam es mehrmals zu Rassenunruhen zwischen Chinesen und Malaien mit Toten und Verletzten. Singapur beschloss damals bewusst, eine multiethnische Gesellschaft aufzubauen, die allen Gruppen gleichermaßen faire Chancen bieten sollte. Ein nationales Gelöbnis, das schon in den Schulen jeden Morgen gemeinsam rezitiert wird, beginnt mit der Formel „Wir, die Bürger Singapurs, geloben vereint zusammenzustehen, unabhängig von Rasse, Sprache und Religion.“

Die sprachliche Vielfalt wurde auf Malaiisch, Mandarin, Tamil und Englisch als Verwaltungssprache reduziert, amtliche Dokumente sind viersprachig. Für die chinesische Mehrheit bedeutete das einen massiven Einschnitt, weil viele auch in der dritten oder vierten Generation noch chinesische Dialekte sprachen und sich kaum untereinander verständigen konnten. Lee Kuan Yew, der erste Ministerpräsident, der so gut Englisch sprach wie seinen Dialekt, ging mit gutem Beispiel voran.

Gemeinschaftsbildende Maßnahmen

Er lernte Mandarin und Malaiisch und konnte seine Reden in allen drei Sprachen halten. Insgesamt hat sich Englisch als Umgangssprache weitgehend durchgesetzt, bei vielen auch mit einem „Singlish“ genannten Unterton. Der Inselstaat ist in diesem Monat 60 Jahre alt geworden und feierte am Unabhängigkeitstag, dem 9. August, seine wirtschaftlichen Erfolge und seine multikulturelle Integration.

Deshalb dürfte Singapur auch für Europa Anschauungsmaterial und Anregungen liefern, wie wir von den ideologischen Grabenkämpfen gegen oder für Multikulti zu einer zielführenden Debatte kommen könnten. Denn ein Zurück zu ethnisch-kulturell homogenen Gesellschaften wird es nicht geben. Singapur war von Anfang an klar, dass der Zusammenhalt einer multikulturellen Gesellschaft gefördert und immer wieder nachjustiert werden muss.

Zu den drei Säulen gehören Gesetze und Sanktionen gegen Missbrauch sowie Leitlinien für die Gleichberechtigung aller Gruppen in der Praxis. Dazu kommen klar definierte Integrationsinstrumente im Verwaltungsvollzug sowie die Förderung gemeinschaftsbildender zivilgesellschaftlicher Aktivitäten. Im Februar hat das Parlament diese Instrumente zusammengefasst und als „Maintenance of Racial Harmony Bill“ verabschiedet. Rassismus und Hetze sind im Strafgesetz klar definiert und werden von den Gerichten entsprechend sanktioniert.

Ein prominenter Fall erregte kürzlich Aufsehen, als ein chinesischer Singapurer auf einer Einkaufsstraße in der Innenstadt einem gemischten Pärchen vorwarf, dass die Liaison zwischen einem Inder und einer Chinesin eine Schande sei. Der Mann wurde zu fünf Wochen Gefängnis und einer hohen Geldstrafe verurteilt und verlor seinen Job als Dozent. Die Gesellschaft wird indessen immer offener, die Zahl ethnischer Mischehen hat sich in den letzten Jahrzehnten mehr als verdreifacht.

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Per Gesetz gegen Rassismus

Doch die Mehrheit der Eheschließungen bleibt innerhalb der ethnischen Gruppierung. Im religiösen Bereich ist Prävention besonders wichtig, weil die malaiische Minderheit ausnahmslos islamisch ist und etwa die Konflikte im Nahen Osten intensiver wahrnimmt als andere Gruppen. Auch wegen der Islamisierungstendenzen in der regionalen Nachbarschaft nimmt die Politik dieses Thema besonders ernst. Im Kabinett wird es durch einen Minister für muslimische Angelegenheiten vertreten.

Die Selbstradikalisierung von Jugendlichen im Internet hat mehrfach Alarm und Verhaftungen ausgelöst. Aggressiven Predigern aus dem Ausland wird die Einreise verweigert. Interreligiöse Kontakte werden dagegen gefördert, die Geistlichen der zahlreichen in Singapur praktizierten Religionen kommen regelmäßig zusammen und organisieren Begegnungsprogramme mit ihren Gemeinden. Ethnische Enklaven wurden durch Quotierung vermieden.

Eine beim Präsidenten angesiedelte Kommission überprüft alle neuen Gesetze, ob sie diskriminieren könnten oder Minderheitenrechte verletzen. Mit der „People’s Association“ (PA) unterstützt die Regierung massiv die sogenannte Graswurzelarbeit, die sozialen Zusammenhalt und ethnische Harmonie fördert und als Bindeglied zwischen der Regierung und der Bevölkerung dient. Die Aktivitäten der PA in rund 2.000 Graswurzelorganisationen und über 100 Community Clubs erreichen einen großen Teil der Bevölkerung dort, wo es am bequemsten ist: in der Nähe ihrer Wohnung.

Damit bieten sie den Parlamentariern, die ohnehin durch wöchentliche Bürgersprechstunden nah am Puls ihrer Wähler sind, einen Austausch in beide Richtungen. Völlig „farbenblind“ ist die Singapurer Bevölkerung trotzdem nicht. Teilweise stammen die Vorurteile noch aus der Kolonialzeit, als die Briten chinesische und indische Arbeiter ins Land holten, weil sie die Malaien für schwere körperliche Arbeit in den Plantagen und Zinnminen Malaysias für ungeeignet hielten.

Berührungsängste abbauen

Es gibt auch immer wieder neue Vorurteile, die hinter vorgehaltener Hand kommuniziert werden. Nur wehe, wenn solche Bemerkungen an die Öffentlichkeit geraten, dann schreiten Polizei und Justiz ein. Aus historischen und administrativen Gründen hält Singapur an der Klassifizierung seiner Bürger als chinesisch, malaiisch, indisch und andere (Eurasier und Europäer) fest. So steht es auch im Personalausweis.

Das klingt rassistischer als es ist, denn gerade auf den verschiedenen Interaktionsebenen der Gruppen wird deutlich, dass religiöse und kulturelle Werte und Gewohnheiten weit schwerer wiegen als die ethnische Abstammung. In immer komplexeren Gesellschaften geht es um die Begegnung von Mensch zu Mensch, möglichst ohne Berührungsangst. Durch die Ghettobildung, die Überforderung der Gemeinden und die daraus erwachsenen Vorurteile auf beiden Seiten hapert es leider gerade damit in Europa.

Singapur zeigt, wie ein umfassendes Integrationskonzept geholfen hat, die notwendigen Maßnahmen zu planen und umzusetzen. Es zeigt auch, dass Wohnung und Arbeit allein für eine wirkliche Integration nicht ausreichen, sondern dass Kultur und Religion einbezogen werden müssen. Andere Parameter passen schwer in den Vergleich, etwa die heute extrem selektive Einwanderungspolitik Singapurs. Für Deutschland und Europa gibt es aber keine Alternative.

Multikulti wird bleiben und zur Norm werden. Der Übergang erfordert ein politisches Konzept und einen umfassenden Kraftakt, der nicht durch parteipolitische Grabenkämpfe sabotiert werden darf. Wir müssen aber auch darauf vorbereitet sein, dass es Jahrzehnte dauern wird. Die Problematik ist für Deutschland existenziell, steht allerdings nicht hoch genug auf der politischen Prioritätenliste der amtierenden Bundesregierung.

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