■ Sind an nationale Wählerschaften gebundene Demokratien geeignet, globale Risiken einzudämmen?: Kidnapper der Demokratie
In unsicheren Zeiten hat das Schlagwort „Sicherheit“ Konjunktur, und selten so wie in diesem Wahlkampf bei den Altparteien. „Sicherheit“ – ausgesprochen bei der SPD, als Bild bei der CDU: des Kanzlers massige Gestalt, ein Fels in der Brandung. Doch die Frage nach den größten Sicherheitsrisiken wird gar nicht gestellt. Wen wundert's? Wären es doch, auf der Ebene der Gestaltung, die Parteien selbst in ihrem verabredungslos einmütigen Boykott der heißen Eisen, der zentralen Gefahren für das Leben und Überleben der 60jährigen Frankfurterin, des 30jährigen Bitterfelders, der einjährigen Hamburgerin. Nichts bedroht das globale, damit auch das nationale und das individuelle Leben derzeit so sehr wie der Lebensstil des Nordens, der in nie gekanntem Ausmaß Natur, die Erde als Lebensgrundlage aller, zerstört und eine sich verselbständigende ökologische Armutsspirale in Gang setzt, die auf der anderen Seite des Globus nicht aus Verschwendung und Übermut, sondern um des täglichen Überlebens willen ebenfalls Naturzerstörung auslöst.
Sind an nationale Wählerschaften gebundene Demokratien potentiell geeignet, globale Risiken einzudämmen? Oder hat der Trend zur globalen Vernetzung (Umweltzerstörung, Migrationen, Medien, internationale Konzerne, Finanzströme, Terrorismus, Drogen) die nationalen Demokratien überholt und als stumpfe Regulierungsinstrumente hinter sich zurückgelassen? Ein Politiker, gleich welcher Farbe, der heute zu einer internationalen Konferenz reist, fürchtet, wenn er für wirkkräftige, also daheim einschneidende Maßnahmen votiert, bei den WählerInnen zu Hause für diese „Geschenke an Russen und Afrikaner“ die rote Karte zu erhalten und sein Mandat zu verlieren. Denn auch wenn Politiker im Wahlkampf das Stück inszenieren: „Gib mir deine Stimme, dann manage ich die Sicherheit deiner Zukunft“, kommen sie an der harten Realität nicht vorbei: Auch ein solcherart re-infantilisierter Bürger bleibt Souverän der Politik – und Arbeitgeber des Politikers. Selbst der uninformierteste und dümmste Wähler kann seinen Manager heuern und feuern. Wie sehr Politiker sich der Tatsache bewußt sind, daß sie abhängige Arbeitnehmer sind, hat das Schicksal des Artikels 16 gezeigt, beweist die Sucht der Parteien nach Meinungsumfragen, als deren Erfüllungsgehilfen sie sich Wahlstimmen versprechen.
Einzigartig und neu ist die Herausforderung heute in ihrer Struktur dabei nicht. Daß es notwendig, sinnvoll oder auch nur einträglicher sein kann, sich mit anderen zu arrangieren oder sogar gemeinsam ein Ziel zu verfolgen, ist geradezu ein Grundzug der Verfassungs-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte: Wohngemeinschaften, Gewerkschaften, Parteien, Städtebünde, Nationen, Konzerne, internationale Gemeinschaften entstanden und entstehen. Frappierend ist deshalb das Verhalten der meisten Parteien, vor allem der Koalition (Schäuble, Kohl, Kinkel, Rühe), die ausgerechnet in einer Zeit, in der Außen- und Innenpolitik gar nicht mehr säuberlich voneinander zu trennen sind (Asylbewerber, terms of trade, europäischer Agrarmarkt), den Kopf in den Sand stecken und mit ihrem neuen nationalen Fähnchen wackeln, statt gemeinsame globale Ziele zu pointieren.
Ist die „endlich gewonnene“ nationale Entscheidungsfähigkeit und Verantwortung in Wirklichkeit nicht eine Fata Morgana, die aus dem Hut gezaubert wird, um über die eigene Untätigkeit hinwegzutäuschen? Wie geht man denn „souverän“ und in „nationaler Selbstbestimmung“ gegen sauren Regen oder eine atomare Wolke vor? Wann war denn der deutsche Landwirtschaftsminister souveräner – in den fünfziger Jahren oder heute? Selbst ein Hinweis auf die Folgeschäden von Alkohol für ungeborene Kinder wird, mit Verweis auf durch europäische Vereinbarungen gebundene Hände, nicht auf Weinflaschen gedruckt. Deutschland im Jahre 1994 ist ein wahrhaft souverän mit dem Kopf schlackernder Staat im Würgegriff der Wirtschaft. Und wie lautete noch die Begründung für die Lockerung der Exportbestimmungen bei „dual use“-Gütern?
Die deutsche Vereinigung vollzog sich just zu einer Zeit, in der Nationalstaaten positiv wie negativ an Entscheidungsfreiheit und Bedeutung verloren hatten. Weltwirtschaft und globale Umweltrisiken, aber auch die Idee eines geeinten Europas hatten das Einzelkind bereits ins Internat gesteckt. 1955 hätte eine Vereinigung zu einer Nation dieses Pathos gerechtfertigt, aber doch nicht 1990ff.
Trotzdem kommt den nationalen Demokratien, vor allem in den Industrieländern, die das globale Schicksal zu wesentlichen Teilen determinieren, erhebliche Bedeutung und vor allem Verantwortung zu. Sie stehen vor einer Bewährungsprobe. Wähler und die, die gewählt werden wollen. Wenn es nicht gelingt, wenn nicht zumindest der Versuch unternommen wird, die Bürger, die Wähler, von der Notwendigkeit global verträglicher Politik, von der Entwicklung eines global verträglichen Lebensstils zu überzeugen und bei demokratischen Wahlen ihre Stimme für diesen Wandel zu erhalten, dann erweist sich die Demokratie als ungeeignetes Instrument zur Sicherung globalen Überlebens. Ursächlich werden Demokratien heute nicht vom Islam, von Faschismus oder roten Socken bedroht, sondern von der eigenen Unfähigkeit, um langfristiger Interessen willen Wohlstandserwartungen zurückzuschrauben. Entweder Parteien verinnerlichen, daß die größten Bedrohungen heute globale Risiken auf der Basis lokaler, besonders im Norden beheimateter Ursachen sind, entweder sie entwickeln ein Erdbürgerbewußtsein, rationale und emotionale globale Identität, und eröffnen den Dialog darüber mit ihrem Arbeitgeber, den Wählern, oder die Politiker müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, nicht nur Schwarzfahrer der Demokratie zu sein, sondern die Kidnapper des Zuges Demokratie, Entführer.
Nichtregierungsorganisationen versuchen in Südamerika, Straßenkinder zu fördern, indem sie sie in ihrer gewohnten Lebenssituation belassen und diese konsequent zum Thema des Unterrichts machen, die Kinder darin unterstützen, ihre Bedürfnisse zu artikulieren und durchzusetzen. Lehrer gehen davon aus, daß Entwicklung nur möglich ist, wenn die Kinder ihre eigene Lage klar erkennen. Lernstoff in westlichen Gesellschaften ist dies, unsere Lebenssituation, nicht – weder für Kinder noch für Erwachsene. Übergreifendes Lernziel für Alt und Jung: Erwartungs- und Verhaltensänderung um des globalen Überlebens willen? Fehlanzeige. Statt dessen der alte eurozentrische Kanon. Er ist überholt. Ist globales Überleben nur möglich, wenn die künftigen Wähler ihre Stimme in Deutschland gemäß ihrer Verantwortung als Erdbürger abgeben, im Wissen um die Folgen ihres Tuns für die Menschen in Bangladesch, in den Anden und in Westafrika, dann brauchen wir andere Geographiebücher, andere Geschichtsbücher, andere Lesebücher, viel mehr projektorientiertes Lernen. Neue Prioritäten in der Bildung sind aber nicht Thema des Wahlkampfes. Auch Außenpolitik nicht, sie wird rein als Dialog zwischen Außenpolitikern betrieben, ist völlig vom Wähler abgekoppelt, obwohl sie sein Leben heute und künftig, vom Morgenkaffee angefangen, tagtäglich bestimmt und nur mit seinem Einverständnis in verantwortlichere Bahnen gelenkt werden kann.
Parteien schielen in Meinungsumfragen nach den Wünschen des Wählers und dürfen sich nicht wundern, wenn der bei diesen Versäumnissen der Politiker die drängendsten Aufgaben nicht benennen kann. Dies in einer Zeit, in der das individuelle Alter sicherer würde, wenn man, statt für Lebensversicherung und Rente Beiträge zu zahlen, jeden Monat Umweltschutzprojekte, Basisinitiativen im Süden oder Meinungsbildung im Norden fördern würde. Wer definiert denn für den Wähler, was Sicherheit ist? Unterzieht sich dieser Mühe überhaupt jemand? Die Sensoren für drohende Gefahr sind durch eine dicke Patina von Versicherungen und Konsum taub geworden. Lean production in der Politik, Politikmanagement, Entwöhnung der Wähler von der aktiven (lästigen) Mitgestaltung – das ist in einer Diktatur vielleicht möglich, aber nicht in einer Demokratie, die nur dann Probleme tatkräftig angreifen kann, wenn die Wähler risikobewußt, aufgeklärt und zur Partizipation bereit (gemacht) sind. Das von der politischen Klasse heute dargebotene Showbusineß um Verteilungsfragen inherhalb des Nordens ist demokratiefeindlicher und zukunftsverbauender, als es manches sozialistische Experiment war. Sachfragen, global bedeutsame zumal, sucht man in diesem Wahlkampf aber mit der Lupe. „Sicherheit“? „Zukunft“? Schlagworte.
Dem Geist der Demokratie, der Volkssouveränität entsprechend ist die Wahl die Stunde des Bürgers, der Wahlkampf die Zeit, in wesentlichen politischen Entscheidungsfragen Meinungsbildung zu betreiben, um Politikern die Basis für Handeln nach der Wahl zu schaffen. Sind die kommenden Wahlen also dem Geiste nach undemokratisch, weil sie entweder den Wähler nicht ernst nehmen oder die uns umgebenden Risiken, die Wirklichkeit? Sollen Weichen für die Zukunft gestellt werden oder nicht? Bisher sieht es nicht so aus. Stefanie Christmann
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