: Sieht schlimmer aus, als es ist
BINNENWELTEN – die taz-Serie über den unsichtbaren Alltag. Teil 5: Eine Nacht auf dem Hamburger Hauptbahnhof ■ Von David Böcking
Noch zwei Züge, dann ist Schluss für heute. Antje Valdix beugt sich über ihr Mikrofon und kündigt routiniert den ICE aus München für Gleis 11 an. Der Zug ist nur eine von vielen Nummern auf der sechs Meter breiten Stelltafel direkt vor ihr. Überall blinkt es, ganz oben in der Mitte hat jemand das Bild einer Katze über eine Leuchte gehängt. Die blinzelt jetzt im Sekundentakt zu Stephen David hinüber. Der sitzt hinter ihr an einem erhöhten Pult und regelt den jetzt sehr ruhigen Verkehr.
Er stellt gerade fest, dass 89485 noch genug Zeit bis zur Abfahrt hat, drückt ein paar Tasten und lässt 35070 vor. Würde David jetzt noch dem Kollegen neben sich die Sternzeit diktieren, das Raumschiff-En-terprise-Gefühl wäre perfekt. Der Hauptbahnhof jedenfalls erscheint Lichtjahre entfernt.
Dabei sind es nur ein paar hundert Meter, die das Zentralstellwerk, in dem die drei ihren Nachtdienst tun, tatsächlich von ihm trennen. Jetzt, gegen ein Uhr morgens, ist es fast gemütlich hier, „eine echt angenehme Stimmung“, meint Valdix, während im Hintergrund leise das Radio dudelt. Aber ist es nicht ein komisches Gefühl, dass jeder Mensch da drüben im Bahnhof ihre Stimme hört? Fast eine halbe Million Menschen laufen tagsüber dort entlang. Aber nein, winkt die Brandenburgerin ab, es sei ja „sehr ano-nym“. Nur ganz selten, wenn sie zum Beispiel mal lachen muss und das Mikro nicht schnell genug ausschaltet, bekommen die etwas mehr von ihr mit.
Auch Fahrdienstleiter David hat wenig Kontakt zu den Menschen, für deren Sicherheit er hier die ganze Nacht über verantwortlich ist. Eher selten ruft auch einmal ein Lokführer persönlich an. Natürlich muss man wachsam sein. „So drei Jahre dauert es, bis man wirklich pfiffig wird.“ Seit fast 30 Jahren macht er diesen Job, der wohl für manchen ein Kindheitstraum war. Nein, eine Modelleisenbahn habe er nicht zu Hause.
Am Hachmannplatz liegt in einem nüchternen Bürogebäude die Sicherheitswache des Bundesgrenzschutzes. Hier kommt die Außenwelt zur Tür herein und das nicht gerade leise. Schreiend und jammernd wird ein Afrikaner im Polizeigriff vorbeigeführt in einen Nebenraum. „Hinsetzen!“. Zwei Beamte stehen, die Hände in die Hüften gestemmt, vor ihm, starren ausdrucklos an ihm vorbei. Der Afrikaner guckt auf den Boden. „Leistungserschleichung“ wird ihm vorgeworfen, er sei schwarzgefahren. Als die Beamten ihn kontrollieren wollten, stellte er sich bewusstlos. Nichts Besonderes, sagen die Beamten.
Aber es wird schon mal dramatischer, das zeigt die zerkratzte Plexiglasscheibe der „Verwahrzelle“. Insgesamt aber wirkt die Wache mit ihren abgewetzten Holztresen fast historisch, wie aus einer alten Folge des „Großstadtreviers“.
Ganz anders die „3S-Zentrale“, ein paar Räume weiter. Wer sie betreten will, muss zunächst in einer elektronischen Schleuse ein paar Sekunden warten, bis sich die letzte Tür öffnet. Dahinter sitzen Uwe Frenzen und Roland Thiemann vor einer Monitorwand. Mit 68 Kameras überwachen sie den nächtlichen Bahnhof. „3S“ steht für Service, Sauberkeit und Sicherheit, aber hier geht es vor allem um letztere.
Unter einer Homer-Simpson-Figur und einem „Smile“-Aufkleber sitzt Roland Thiemann und lächelt tatsächlich. Der Job sei „gewöhnungsbedürftig“ meint der Mann mit der Rex-Gildo-Frisur, aber nach einiger Zeit „ähneln“ sich die Bilder, auch die negativen. Trotzdem – wenn er junge Mädchen beobachtet, die sich auf dem Straßenstrich verkaufen, hofft der Vater zweier Kinder, genug mit diesen reden zu können, damit sie nicht abstürzen.
„Wir versuchen den Leuten Hilfestellung zu geben“, tröstet sich sein Kollege Uwe Frenzen. Mehrmals am Tag würden sie Rettungswagen rufen, wenn sie verletzte oder orientierungslose Menschen auf ihren Schirmen entdecken. Allerdings gebe es sicher Leute, „die noch viel mehr Hilfe bräuchten als sie bekommen“. Und wie fühlt er sich, wenn er um sechs Uhr morgens auf den Hachmannplatz hi-naustritt, von dem ihn jetzt noch die Schleuse trennt? Ach die Schleuse, lacht Theimann ein wenig verlegen. „Die dürfen sie nicht so wichtig nehmen“, das sei nur eine Idee der Architekten gewesen. Nein, bedroht fühle er sich nicht.
Wenn Polizei oder Sicherheitskräfte wieder einmal eine hilflose Person antreffen, schicken sie diese häufig zur Bahnhofsmission. Nachts sind die schummerigen Räume am Steintorwall die einzige Anlaufstelle im Bahnhof. Drinnen herrscht ein bisschen Jugendherbergsatmosphäre. Zwei Mitarbeiter in Uniformwesten warten hinter einem Tresen auf Neuankömmlinge, eine Frau in geblümter Bluse schläft auf der Tischplatte. Vor allem kümmert man sich hier um akute Notfälle, aber die „MoDiMi“-Treffs für drogenabhängige Jugendliche sollen auch eine regelmäßige Anlaufstelle bieten.
Im Eingang hängen handgeschriebene Zettel. „Lieber Andreas, ruf doch bitte zu Hause an“ steht unter einem kopierten Foto. Auch wenn das Kirchliche nicht im Vordergrund steht, die Mitarbeiter hier sind eine verschworene Gemeinschaft. Ungefähr achtzig Prozent arbeiten ehrenamtlich, die beiden, die gerade Nachtschicht haben, waren schon als Zivis hier. Es sieht so aus, als würde es eine ruhige Nacht für sie, in ein paar Stunden gibt es für die Gestrandeten dieser Nacht ein Frühstück, dann werden sie wieder hinausgeschickt.
Fast 17.000 Menschen hat die Bahnhofsmission im vergangenen Jahr geholfen, darunter ist der Selbsmordkandidat aus Ungarn genauso wie die dreiköpfige deutsche Familie, die auf der Urlaubsheimreise den Zug verpasst hat.
In der Unterführung zur Mön-ckebergstraße stehen hinter einem mit Lamellen verhangenen Fenster wieder Monitore. Noch bis sechs Uhr koordiniert hier Ulrich Ecklebe von der Bahnbetreuungsgesellschaft (BHH) bis zu zwei Dutzend Mitarbeiter, die in orangefarbenen Schutzwesten den Bahnhof auf Vordermann bringen. Aber die BHH kümmere sich auch um die „Verbesserung des sozialen Umfelds“, erzählt deren Leiter Günter Blümlein, während auf einem der Bildschirme ein Grüppchen die Crackpfeife herumreicht. Drei Videorecorder warten über den Bildschirmen darauf, solche Szenen kurzfristig mitzuschneiden, falls die Polizei es wünscht. Ulrich Ecklebe kann Bilder mit seinen Kollegen in der 3S-Zentrale austauschen, und wenn er will, kann er die Kameras bewegen und Szenen vergrößern.
So könnte er jetzt auch auf Mike Reimers zoomen, der in der fast leeren Bahnhofshalle Vordächer mit einem Besen vom Taubenkot befreit. Darunter saugen Kollegen mit einem überdimensionierten Staubsauger Kippen aus den Gleisen, andere putzen Werbetafeln oder die Unterseiten der Treppen.
Der 24-Jährige ist verschwitzt, die Arbeit geht langsam voran, da er wegen der Stromleitungen unter ihm kein Wasser benutzen kann. Er ist seit zweieinhalb Monaten hier, nur wenige Mitarbeiter bleiben sehr lange. Aber, so Reimers lächelnd, „es sieht schlimmer aus, als es ist“. Zwei Uhr, gleich fahren die ersten Züge wieder, es riecht nach Zitronen.
Montag Teil 6: Zwischen Dill und Grill. Das Leben in Hamburgs Kleingärten
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