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Sie streiten über den Körper und das Leben an sich

Von der Abtreibung bis zur Sterbehilfe reicht das Feld der Bioethik. Deren kurze, spannende Geschichte in Deutschland hat Petra Gehring in einem monumentalen Buch aufgearbeitet

Wo Dummys benutzt werden, kann sich die Bioethik entspannt zurücklehnen Foto: Ritzerfeld/plainpicture

Von Björn Hayer

Was waren das für Debatten – als Frauen mit dem Slogan „Mein Bauch gehört mir“ gegen den Abtreibungsparagrafen zu Felde zogen. Oder als Studierende einen derart lautstarken Protest gegen den umstrittenen Peter Singer betrieben, dass der Intellektuelle wegen seiner Erwägung, Neugeborene mit Behinderungen zu töten, aus Veranstaltungen ausgeladen wurde. Warum diese Debatten nach 1945 so massive Resonanz erzeugten, liegt nicht zuletzt an ihrem Gegenstand: dem Körper, dem Leben an sich. Um seinetwegen haben sich nicht nur Be­rufs­po­li­ti­ke­r:in­nen gestritten, sondern im Laufe der Jahre immer mehr Ver­tre­te­r:in­nen der sogenannten Bioethik.

Bioethik ist eine Querschnittsdisziplin der Naturwissenschaft, Theologie und Philosophie, die in Deutschland seit dem „Ethikboom“ der 1980er auf eine eigene, wenn auch kurze Geschichte zurückblickt – mit explosiven Diskursen und neuralgischen Punkten. Sie aufzuarbeiten und darzustellen, hat sich die Philosophin Petra Gehring zur Aufgabe gemacht und eine Schrift von kanonischem Wert vorgelegt: „Biegsame Expertise. Geschichte der Bioethik in Deutschland“.

Die heiklen Auseinandersetzungen schließen nahezu alle Fragen ein, die Anfang und Ende der Existenz betreffen – von der „Züchtung“ von Embryonen für die Forschung über den Schwangerschaftsabbruch bis zum Ringen mit dem kontrovers verhandelten Hirntodkonzept. Ein Befund, der sich früh abzeichnet: So richtig bioethisch hat man zu Beginn gar nicht diskutiert. Stattdessen schuf nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem das ärztliche Standesrecht Ordnung. Es war weder demokratisch legitimiert noch aus Pro-und-Contra-Argumentationen hervorgegangen. Geprägt wurde es insbesondere durch die Erfahrungen in der NS-Diktatur.

Diese Erfahrungen sollten auch in den kommenden Dekaden zahlreiche bioethische Konflikte überschatten. Man denke an die sogenannte Präimplantationsdiagnostik. Mit ihr lassen sich beispielsweise bestimmte Krankheiten vorgeburtlich bestimmen. Was die einen als Möglichkeit verstehen, einem Kind ein „unwürdiges“ Dasein zu ersparen, betrachten die anderen als Vorstufe einer Eugenik, wie sie die Nazis ins Werk setzten.

Ähnliches gilt für die Sterbehilfe. Die Vorstellung, die Würde eines Menschen zu wahren, indem man ihm maximale Freiheit für die assistierte Beendigung des eigenen Lebens gewährt, trifft auf die Bedenken, dass andere aus dem Tod ein Geschäftsmodell machen.

Nüchtern und kenntnisreich, wenn auch in einem – ganz dem deutschen wissenschaftlichen Schreibideal entsprechenden – verschachtelten, stellenweise schwer lesbaren Stil zeichnet Gehring die Positionen nach und stellt dabei die jeweils relevanten Ak­teu­r:in­nen in Wissenschaft, Politik und Medien vor. Denn Bioethik, so ein Ergebnis dieser monumentalen, über tausend Seiten umfassenden Studie, kann man nicht einfach umreißen. Sie setzt sich aus einer Vielzahl an gesellschaftlichen Dynamiken, Skandalbildungen und Handelnden zusammen, die über höchst unterschiedliche Hintergründe verfügen.

Damit man Haltungen begründen kann, bedient man sich – und darin äußert sich das Fesselnde dieses Abrisses – der Zuspitzung, wie etwa beim Abtreibungsparagrafen. „Menschliche Zellen seien nun einmal“, so meinte etwa ein von der Autorin zitierter Kritiker, „nicht identisch mit menschlichen Wesen.“ Peter Singers Ausführungen stehen dem in nichts nach. Wie können wir intelligente Tiere anscheinend bedenkenlos töten, aber einen Aufruhr bei der Beseitigung von Zellhaufen anzetteln, der überdies noch die Autonomie der Frau beschneide? So könnte man seine provokativen Stellungnahmen zusammenfassen.

Petra Gehring: „Biegsame Expertise. Geschichte der Bioethik in Deutschland“. Suhrkamp, Berlin 2025, 1.343 Seiten, 78 Euro

Als nicht minder spannend erweist sich Gehrings Behandlung brisanter Einzelfälle. Wer weiß noch, dass ein Autokonzern vor wenigen Jahren bei Unfallsimulationen Dummies durch Leichen ersetzte, ohne über Einverständniserklärungen der Verstorbenen zu verfügen? Oder wer erinnert sich noch an einen Fall aus Erlangen, in dem eine hirntote Mutter weiter durch Maschinen am Leben gehalten wurde, damit ihr Kind auf die Welt kommen konnte? Wird dabei noch deren Würde gewahrt, wenn sie nur noch als Gefäß dient? Oder war dieses Verfahren geradezu zwingend, um dem Lebensrecht des Ungeborenen Geltung zu verschaffen?

Diese Überlegungen veranschaulichen die Bedeutung der Bioethik, die aus Sicht der Autorin für die Gesellschaft Sinn produziert. „Neben dem Orientierung gebenden, vielleicht moralische Konfrontationen einhegenden Vermögen“ wirkt sie ferner als „Morallieferantin“. Sie zeigt somit einen für alle transparenten Weg zu begründeten Wertvorstellungen auf. Inwiefern die Bioethik dabei vor allem reaktiv auf den rasanten Fortschritt tätig wird oder eigenmächtig Themen setzt und vorantreibt – darüber lässt sich reichlich sinnieren. Genauso übrigens wie über ihre exakte Definition, haben wir es doch bei all den Teilaspekten der Bioethik mit einer „Unschärfe des Begriffs“ zu tun.

Fakt ist jedoch, dass sie uns etwas durchaus Erhellendes für unsere demokratischen Verfahren lehrt und vorführt, nämlich eine von Respekt getragene Dialogkultur. Allen voran hat sie sich im Bundestag entwickelt, wo mitunter Belange der Gentechnik, des Klonens oder des Embryonenschutzes zumeist jenseits klassischer Fraktionsgrenzen besprochen werden. Man sucht nach Lösungen, hört zu, wägt ab und nimmt Abstand von der Parteipolitik. In Zeiten rasch erhitzter Gemüter dient sie zweifelsohne als gutes Vorbild.

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