■ Sie hoffte auf viel und wurde enttäuscht: Ein demokratisches Tschetschenien, in dem der Islam keinen Einfluss hat, entstand nicht. Nun flieht die Ärztin Ayza vor einem neuen Krieg: „Wir möchten hier raus“
Der Brief kommt direkt aus der Hölle. In Grosny abstempelt, wenige Tage vor dem Beginn des Luftkrieges. Ich kann es kaum fassen.
Ein Brief aus der kleinen Kaukasusrepublik von der Größe Schleswig-Holsteins, in der schon lange nichts mehr funktioniert. Der Rechtsstaat nicht, auch nicht das Schulwesen, die Wirtschaft oder das Telefonsystem. Und schon gar nicht die Post. Aber da ist der Brief, von meiner Freundin Ayza, Ende 30, Ärztin. Während des Krieges 1994 bis 1996 waren Ayza und ihr Mann oft meine Wirte. Hotels gab es schon lange nicht mehr in Grosny, die Journalisten aus aller Welt quartierten sich bei Privatleuten ein. In einstöckigen Häusern, umsäumt von hohen Mauern, gingen BBC-Reporter, Reuters-Kameramänner, Zeit-Autoren und wir ARDler ein und aus. Bewacht, bekocht und informiert von „unseren“ Familien. Eine Mittelklasse-Gegend, würde man vielleicht sagen, wenn da nicht die Bombentrichter gewesen wären und die beherrschende Armut. Auch nach dem Sieg der Tschetschenen im August 1996 hielt ich den Kontakt mit Ayza, ihrem Mann Ruslan und den Töchtern Lalita und Madina, 13 und 14 Jahre alt, aufrecht.
Ayza schreibt: „... Nun hat ein Krieg in Dagestan angefangen, und wer weiß, er könnte sich bei uns wiederholen. Wir kennen Tag und Nacht nur Angst. Die Töchter tun uns besonders Leid. Sie können sich nicht schön kleiden, in der Stadt spazieren gehen und die Schule normal besuchen. Unsere Hoffnungen haben sich nicht erfüllt.“
Die Hoffnungen waren groß, auch noch im Oktober 1997, als ich die Familie zum letzten Mal besuchte. Damals arbeitete die Ärztin in der Poliklinik Num- mer 8. Ohne Lohn natürlich. In der Klinik gab es nichts, noch nicht einmal eine funktionierende Heizung. Meistens brachten ihr Patienten Eier oder Fleisch als Bezahlung mit. Bestenfalls konnte Ayza Blutdruck messen, Aspirin und gute Ratschläge verabreichen. Sie war hager, schön und voller Überlebenswillen. Und machte gerne ironische Witze über die großen Sprüche der tschetschenischen Männer über die Unabhängigkeit.
Sie fühlte sich sehr abhängig – vom mangelnden Geld. Ihre Hoffnung war der gemäßigte Präsident Aslan Maskhadow, für den ihre Familie im Januar 1997 in freien, von der OSZE kontrollierten Wahlen gestimmt hatte. Er wollte doch mit Moskau normale Beziehungen herstellen. Ließ sich geduldig von den Radikalen der jungen Generation wie Shamil Bassajew oder Salman Radujew als Russenfreund beschimpfen. Obwohl der moderate Maskhadow gerade mal die Stadt Grosny kontrollierte, schien das für Ayza eine Gewähr zu sein, dass Extremisten und Fundamentalisten hier nie das Sagen bekommen würden. „Ich verschleiert? Das glaubst du im Ernst nicht. Wir Frauen in den Städten sind immer frei gewesen, keine Religion kann uns versklaven, der Islam geht bei uns nicht sehr tief.“
Lalita und Madina liebten ihre Westklamotten, Disney-Videos und Spice-Girls-Kassetten vom Schwarzmarkt. Nun sollten sie anders aussehen. Arme, Beine und Haar sittsam bedecken. Jungen und Mädchen sollten in getrennten Klassen sitzen. Aber die Hälfte der Klassenzimmer istr zerstört, sie haben weder genug Kreide noch Schulbücher.
Die versprochene Wiederaufbauhilfe aus Moskau kam nie an, und der Westen ließ Tschetschenien allein. Ein Land in Trümmern, ganze Viertel der 300.000-Einwohner-Stadt Grosny sahen auch gut ein Jahr nach dem Abzug der Russen noch wie Dresden, wie Stalingrad im Zweiten Weltkrieg aus. Das Einzige, das blühte, war die Entführungsindustrie. Hunderte Menschen wurden schon im ersten Nachkriegsjahr entführt. Von der Straße weg in Autos gezerrt. Oder in ihren Häusern überfallen. Die eigenen Landsleute waren übrigens die beliebtesten Opfer. Denn auch wenn die Armut im Lande selbst groß war, es gab immer Verwandte in der tschetschenischen Diaspora, die Geld genug hatten.10.000, 20.000 Dollar wurden so schnell verdient. Ausländer brachten Millionen ein.
Ayza schreibt: „... Wir möchten raus, irgendwohin fliehen. Holland, Dänemark, Deutschland. Nehmen sie Flüchtlinge? Nach Russland können wir nicht.“
Russland ist seit den entsetzlichen Bombenattentaten auf Wohnhäuser einer Pogromstimmung verfallen. Berechtigte Angst vor sinnlosem Terror schlägt oft in dumpfen Rassismus um. Die „Schwarzen“, so wurden Menschen aus dem Kaukasus immer schon genannt, sind wieder einmal Zielscheibe von Razzien, Verhaftungen, Misstrauen und Hass. Zweifler melden sich kaum öffentlich zu Wort. Nur ganz privat sagen mir russische Freunde, dass diese Attentate viel zu perfekt scheinen, um tschetschenische Urheber zu haben. Wer diese Gotteskrieger und ihren Männlichkeitswahn kennt, weiß, dass sie möglichst im Lichte der internationalen Fernsehkameras agieren, um daheim als Helden bewundert zu werden. Untypisch dagegen die kalt durchdachte, unsichtbare Perfektion der Anschläge in Moskau und anderswo.
Beharrlich wird die Terroristenkarte von Ministerpräsident Putin ausgespielt, obwohl er genau wissen muss, wie wenig Rückhalt die Warlords Bassajew und Chattab für ihr blutiges Dagestan-Abenteuer bei der Normalbevölkerung hatten.
Tschetschenen und Russen – eine Kolonialgeschichte. Seit über 200 Jahren gehört das Land zu Russland, im großen Kaukasuskrieg wurde es damals von zaristischen Generälen brutal erobert, 50 Jahre brauchten sie für die Unterwerfung. Für Moskau ist hier der südliche Rand Russlands, eine Gegend von höchster strategischer Bedeutung. Denn durch das kleine Tschetschenien führen wichtige Verbindungen vom Kaspischen Meer zur Türkei und auch Fernstraßen und Eisenbahnlinien von Rußland nach Georgien und Aserbeidschan. Einst ein Handelsknotenpunkt für den Süden der ehemaligen Sowjetunion und ein Zentrum der Erdölverarbeitung. Früher standen hier die Raffinerien der UdSSR, die Tschetschenen haben immer noch große eigene Reserven. Wer Tschetschenien kontrolliert, kontrolliert eine Drehscheibe. Nun holen sich die Russen zumindest die Terek-Region im Norden zurück, ein Drittel der Republik. Es wird nicht so schwer sein, dieses Gebiet zu beherrschen. Zum einen ist die Bevölkerung der Terek-Region traditionell nicht so moskaufeindlich wie etwa die im gebirgigen Süden oder in der Hauptstadt Grosny. Zum anderen ist das Gelände hier flaches Steppenland, ideal also für den Einsatz von schwerer Artillerie und Panzern. Ein verlustreicher Guerillakrieg ist nicht zu befürchten. Dafür winken Geldgeschäfte: die wohl wichtigste Kriegsbeute, die Ölpipeline, die vom Kaspischen Meer durch das eroberte Gebiet am Terek westwärts führt. Moskau hofft, die Trasse nun zu kontrollieren. Die Rebellen können dann auch nicht mehr einfach die Leitungen anzapfen und sich mit gestohlenem Öl finanzieren.
Ayza schreibt: „... Danke für das Geldgeschenk, das über T. zu uns kam. Es ist uns gelungen, damit Auslandspässe zu bekommen. Ich schäme mich dich zu fragen, aber wir haben so viel gelitten und sind einfach müde. Wenn wir nicht herauskönnen, bitte hole meine Töchter raus. Ich weiß keinen Ausweg mehr.“
Erpressung von oben: Lalita und Madina mussten pro Monat je umgerechnet 20 Mark „Schulgeld“ zahlen – damit die Lehrer nicht das Land verließen. Weil der Staat keine Gehälter zahlte. Das bisschen Bargeld kratzte ihr Vater, ehemaliger Zahnarzt, durch kleine Schmuggeleien und Schwarzmarktgeschäfte zusammen. Er kaufte begehrtes Waschpulver, Kinderschokolade und Wodka auf den Märkten in der Nachbarrepublik Inguschetien ein, dann vier Stunden Autofahrt zurück, Schmiergeld für die Grenzposten nicht vergessen, schließlich mit einem Aufschlag an Freunde und Nachbarn in Grosny verkaufen. Einmal wurde er des Wodkas wegen von islamischen Eiferern verprügelt. Er hörte danach auf, über die „Bärtigen“ zu spotten.
Ayza sagte oft: „Grosny – das war das Paris des Kaukasus. Ich war einmal mit meinen Eltern in Frankreich. Unsere Stadt war einst genauso schön wie die Städte dort.“ Eine kurze Zeitlang nach dem Krieg konnte ich ihre trotzige Heimatliebe nachempfinden, trotz der Ruinenlandschaft. Es gab die breiten Boulevards mit einst prächtigen Wohnhäusern und kleinen Parks. Es gab ein paar Cafés, wo sich schick gemachte junge Leute zu Limonade und Bier trafen. Die Mädchen mit knallroten Lippen, Jeansröcken, hochhackigen Stiefeln und feschen Schals, die Jungen in Armani- oder Adidas-Kopien. Ärmlich und charmant zugleich. Und die Feste waren die fröhlichsten, die ich im Kaukasus erlebte.
Mit der wachsenden Ohnmacht der Regierung von Maskhadow, mit dem immer selbstbewussteren Auftreten kleiner Gruppen von „Wahabisten“, von jungen Fundamentalisten, verdorrte die Aufbruchstimmung. Seit Entführungen und Morde das Land lebensgefährlich für ausländische Hilfswerke, Investoren und Journalisten machten, droht es an der Isolation zu ersticken.
Ayza und Ihre Familie sind inzwischen ebenfalls nach Inguschetien geflohen, denn sie wollten nicht den nächsten, jetzt bevorstehenden Sturm auf Grosny abwarten. Flüchtlinge ohne Chance auf Normalität, wie Zigtausende andere auch. Wenn die namenlosen Massen auf dem Bildschirm an mir vorbeirauschen, dann sehe ich nicht mehr „Tschetschenen“, sondern zutiefst anständige, kleinbürgerliche Leute, denen gewaltiges Unrecht geschieht. Denn der Kreml braucht zum zweiten Mal in fünf Jahren einen „kleinen, siegreichen Krieg“.
Sonia Mikich
Unsere Autorin reiste während ihrer Tätigkeit als ARD-Korrespondentin in Moskau immer wieder nach Tschetschenien, heute arbeitet sie als ARD-Korrespondentin in Paris.
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