berliner szenen: Sie brauchen Urlaub
Letzte Woche war ich beim Optiker. Ich hatte in letzter Zeit öfter so ein Flimmern vor den Augen. Ich dachte, na, wer weiß, bist ja jetzt auch schon Ende dreißig, da ist es ja eigentlich ein Wunder, dass ich keine Brille trage, bei all den Buchstaben um mich rum.
Der Optiker steckte mich in einen Kasten, maß, schob und testete, ließ mich Geheimcodes aus Buchstaben und Zahlen von einer Wandtafel ablesen; korrigierte maß und testete noch mal. Am Ende sah er mich erschöpft an und sagte: „Wissen Sie was, Frau Streisand, ich glaube, Sie brauchen keine Brille. Ich glaube, Sie brauchen einfach Urlaub.“
„Das geht doch nicht“, rief ich. „Ich muss doch den Roman fertig schreiben!“ Der Optiker nahm seine Brille ab und putzte sie nachdenklich. „Gibt es da nicht so was? Landverschickungen für Schriftsteller? Zauberberg oder so?“
„Es gibt so Stipendien“, sagte ich.
„Sehn Sie!“, rief der Optiker und setzte seine Brille wieder auf. „Das müssen Sie machen! Ein Stipendium! Irgendwo wo’s schön ist. Hauptsache raus aus Berlin.“ Ich schüttelte traurig den Kopf. „Die nehmen mich doch eh nicht.“
„Quatsch!“, meinte der Optiker. „Haben Sie sich überhaupt schon mal beworben?“ Ich musste an den jüdischen Witz denken. Joshe betet jeden Abend: „Lieber Gott, schenk mir einen Lottogewinn!“ Jeden Mittwoch und Samstag guckt Joshe die Lottoziehung. Nie gewinnt er was. Aber trotzdem betet er weiter jeden Abend: „Herr, schenk mir einen Lottogewinn!“ Als Joshe schon über neunzig ist, betet er immer noch dasselbe: Und da plötzlich teilen sich die Gestirne und eine Stimme ruft von oben: „Joshe, gib mir ’ne Chance! Kauf dir ein Los!“
Heute Abend werde ich mit den Stipendienbewerbungen anfangen. Oder der Optiker verschreibt mir ’ne Kur. Auf Rezept. Das wär’s. Lea Streisand
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