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■ VorlaufSichtbare Zeit

„Die Geschichte von Onkel Willy aus Golzow“, 22.20 Uhr, ORB

1961 kamen die Dokumentarfilmer Barbara und Winfried Junge nach Golzow, einem kleinen Dorf im Oderbruch, um eine auf Jahrzehnte hin angelegte Filmstudie zu beginnen. Das Ehepaar sollte die Schüler einer Klasse der Polytechnischen Oberschule auf ihrem Lebensweg begleiten, mithin das praktische Heranreifen des „neuen Menschen“ festhalten – ein Auftragswerk.

Willy Sommerfeld gehörte zu diesen Schülern, der sich am ersten Schultag mit breitem Grinsen in die Holzbank fläzt. Den Zahlen und Buchstaben bald nicht mehr gewachsen, ging Willy mit der siebenten Klasse ab und wurde ein wertvolles und beliebtes Mitglied der sozialistischen Menschengemeinschaft: Er konnte alles reparieren, eine im realexistierenden Sozialismus unersetzliche Fähigkeit. Als Lehrling nach seinen Träumen befragt, wünschte sich der schöne, lockige Willy nach reiflichem Überlegen, „daß immer Frieden ist“ und „daß man mal rauskommt, reisen“. „Die Geschichte von Onkel Willy“ erzählt, was daraus wurde. Willy hat mit zwanzig geheiratet, zwei Kinder kamen, die Scheidung. Willy heiratet wieder – eine Studierte. Da war noch DDR und in dieser Hinsicht nichts unmöglich.

Sie wollten eigentlich keine Langzeitdokumentation mehr drehen, so sagten Winfried und Barbara Junge, als sie ihren Film, der bis in das Jahr 1994 führt, im vergangenen Februar bei der Berlinale vorstellten. Jetzt hat die ARD Gelder zur Verfügung gestellt, um die Fortführung des Projekts zu ermöglichen. Es fällt zunehmend schwerer, sich das vorzustellen, denn Langzeitbeobachtungen ist eine traurige, logische Finalität zu eigen, die sich proportional zur vergehenden Zeit verstärkt. Die Zukunft liegt glitzernd vor einem Kind; es glaubt, daß es die anderen, Schulkameraden, Eltern, Nachbarn, immer kennen wird. Doch auch Onkel Willy lebt nicht mehr in Golzow. Die Dokumentarfilme der Junges sind sichtbare Zeit: In einer Dopplung von Biografien nehmen sie die Kamera von Willy Sommerfeld bei der Einschulung seines dritten Kindes, Kevin, ins Bild. Anke Westphal

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