Sicherheit im Radsport: Technik und Training
Stürze gehören zum Alltag eines Radprofis. Eine KI wertet das Sturzgeschehen aus, doch die Erkenntnisse werden noch viel zu selten genutzt.
Und Pogacar war zugleich im straffen Pantani-Modus. Denn auch der hatte ungefähr an der gleichen Stelle vor 25 Jahren einen Defekt und startete daraufhin eine der epochalsten Aufholjagden überhaupt und gewann die Etappe. Pogacar zog nach, nicht ganz so epochal, stärker unterstützt von seinem Team. Aber er gewann ebenfalls.
Erinnerung an schlimme Stürze werden beim Giro aber auch wach gehalten. Als Tim Merlier die erste Sprintetappe dieser Ausgabe gewann, widmete er seinen Sieg Wouter Weylandt. Der starb vor fast genau 13 Jahren noch an der Stelle seines Sturzes beim Giro. Es ist dies eine der traurigsten Episoden des Radsports.
Seitdem ist das Bewusstsein für Fahrersicherheit in der Branche gewachsen. Das norwegische Start-up Safe Cycling etwa produziert seit 2016 kombinierte optische und akustische Warnanlagen, die bei immer mehr Rennen an gefährlichen Stellen positioniert werden – und von den Fahrern auch als sehr sinnvoll bewertet werden.
Selbst künstliche Intelligenz wird mittlerweile eingesetzt, um Stürze zu analysieren und daraus Erkenntnisse für mehr Sicherheit zu gewinnen. Pionierstatus hat hier ein Team um den Softwarespezialisten und promovierten Videoanalysten Steven Verstockt von der Universität Gent. „Wir bauen eine Datenbank über Stürze und Sturzursachen im Straßenradsport auf“, meint Verstockt. Mehr als 1.000 Stürze zählt die Datenbank mittlerweile. Auslöser war der Horrorcrash von Fabio Jakobsen bei der Polenrundfahrt 2020. Als häufigste Sturzursachen benennt Verstockt gefährliche Abfahrten, Probleme bei Wechsel des Fahrbahnbelags, etwa von Asphalt zu Pflasterstein oder Kies, dann die Massensprints und schließlich Fahrfehler.
Die Daten gewinnt sein Team vornehmlich durch die maschinelle Auswertung von X-Accounts. „Wir wählen Accounts aus, die häufig Informationen über Stürze posten. Derzeit sind das etwa 250“, erklärt er. Die Daten werden dann aufbereitet und strukturiert, und wenn vorhanden, mit Fotos und Videos verknüpft. Denn die Bilder können auch Auskunft über die Schwere der Stürze geben, etwa durch die Wucht des Aufpralls oder die Zeit, in der ein Fahrer am Boden lag.
Die Daten stellt Verstockt der dem Weltverband UCI zur Verfügung. „Sie können zum Screening von Rennstrecken genutzt werden. Wo gibt es zum Beispiel eine Kombination aus Abfahrt, in der das Peloton sehr schnell ist, und einem Wechsel des Fahrbahnbelags? Da können wir die Organisatoren informieren, sodass sie die Stelle entweder besser kennzeichnen oder den Kurs ändern können. Mit Hilfe von KI kann man auch regelmäßige Berichte über das Sturzgeschehen veröffentlichen. Informationen dieser Art gibt es bislang nicht“, so Verstockt. Sein Team filmt auch Rennstrecken ab und analysiert sie hinsichtlich potenzieller Gefahrenpunkte.
Besseres Training
Die Initiative sei gut, meint auch Helge Riepenhof. Der Unfallchirurg vom Krankenhaus der Berufsgenossenschaft in Hamburg war lange Teamarzt im Radsport und ist ein Pionier der herkömmlichen Sturzstatistik. Bereits vor 20 Jahren wertete er das Sturzgeschehen aus. „An den Ursachen hat sich nicht viel geändert. Typische Stürze, bei denen viele Fahrer involviert sind, ereignen sich gerade am Ende von Etappen oder an gefährlichen Stellen im Streckenverlauf.
Gut entwickelt hat sich aber die Prävention. Früher, ich rede hier über einen Zeitraum von 20 Jahren, konnte jeder Rennfahrer im Schnitt sieben Tage im Jahr aufgrund von Sturzfolgen nicht an Rennen teilnehmen. Jetzt hat sich das auf drei Tage reduziert“, sagte Riepenhof bei einem Besuch beim Giro der taz. Ausschlaggebend dafür sei das bessere Training neben dem Rad. Der Oberkörper der Rennfahrer ist viel stabiler geworden – und damit werden aus medizinischer Sicht die Sturzfolgen auch abgemildert.
Riepenhof gibt aber auch zu bedenken, dass die neue, KI-generierte Sturzstatistik nicht das komplette Spektrum abbildet. „Was meiner Meinung nach zu wenig berücksichtigt wird, sind die Folgeverletzungen. Wenn ich mir beim Sturz zum Beispiel eine kleine Schürfwunde hole, dann ist das zunächst keine schwere Verletzung. Es kann aber passieren, dass ich deswegen anders auf dem Rad sitze und mir dadurch eine Entzündung der Sehne zuziehe. Das ist dann auch eine Folge des Sturzes“, meint Riepenhof.
Auch Verstockt hält die Statistik seines Teams nicht für das Nonplusultra. „Wir bilden ja nur Stürze ab, die eine gewisse Aufmerksamkeit erlangt haben und die in den sozialen Medien auftauchen. Deshalb wird die Datenbank auch manuell durch die UCI ergänzt“, erklärt er. Als Entscheidungstool taugen die Datenbank und die daraus abgeleiteten Erkenntnisse schon jetzt.
Nun liegt es an den Rennorganisatoren, sie auch zu benutzen, und den Parcous nach diesen Kriterien gegebenfalls zu verändern. Für 50 Renntage, darunter Etappen bei Lombardeirundfahrt, Polenrundfahrt, Tour de Romandie und Benelux Tour, hat das Team um Verstockt das bereits getan. Die greoßen Landesrundfahrte wie der Giro oder die Tour de France waren noch nicht dabei. Es wird Zeit, dass sich das ändert. In Sachen Anpassung der Strecken sehen sowohl der Informatik-Professor Verstockt als auch der Mediziner Riepenhof noch reichlich Luft nach oben.
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