Short Stories from America: Elektronische Seelenrettung
■ In Vor-Fernsehzeiten ging es bekanntlich total friedlich zu. Jetzt kommt zum Glück der Violence-Chip
Calvin Klein hat die Christen auf die Palme getrieben. Der berühmte Modeschöpfer verpackte Teenager in T-Shirts und enge Jeans, ließ sie Schmollmünder ziehen, und schon schreien die Verteidiger von Sitte und Anstand: Kinderporno! Calvin steckte zurück und verzichtete auf die Anzeigen. Erst vor ein paar Wochen hatte der Kongreß ein neues Kommunikationsgesetz verabschiedet. Danach müssen Fernsehgeräte einen Mikrochip enthalten, damit Eltern V-Programme blockieren können (V steht für Violence – Gewalt). Noch ein paar Wochen früher hatte Bob Dole in seiner Präsidentschaftsgier Hollywood als die Ursache aller Übel ausgemacht – von der Gewalt in den Städten bis zu Eheproblemen.
Nach Verabschiedung des Kommunikationsgesetzes vergoß der republikanische Abgeordnete Dan Burton aus Indiana Tränen der Erleichterung. Als Kind, sagte er, habe er viel Gewalt in seiner Familie miterlebt, die sei mit Sicherheit durch die Gewalt in den Medien ausgelöst worden. Burton und die anderen Bilderstürmer hoffen jetzt, da weniger Gewaltbilder über den Bildschirm flimmern sollen, auf eine friedlichere Zukunft, und sie haben mich überzeugt: Sie haben recht.
Jeder verantwortliche Politiker weiß, daß Burton in seiner Jugend ohne die Gewalt in Filmen und Fernsehen niemals häusliche Brutalität hätte erleben müssen. Führt man Kindern auf dem Bildschirm Gewalt vor, werden sie zu gewalttätigen Erwachsenen. Im Leben werden ihnen niemals Wut, Haß, Gier, Vorurteile oder Sexismen über den Weg laufen.
Hätten doch die Amerikaner niemals „Gunsmoke“, „Paladin“ oder andere Programme aus Burtons Kindheit ansehen müssen! Hätten wir doch nie „Bonanza“ gesehen, wo die Gewalt eines Familienclans in den Himmel gehoben wird, dann lebten wir heute in derselben friedlichen Harmonie wie China, Irak und Iran – in diesen Ländern sind nämlich die Bilder verboten, die unser sanftmütiges amerikanisches Temperament korrumpieren.
Außerdem wissen alle: Bevor das Fernsehen in unserem Leben Einzug hielt, gab es in unserem Land keine Gewalt – angefochten wurden wir damals nur durch die Comics, das Nickelodeon, die Groschenromane, ordinäre Balladen oder Michelangelos sinnenfrohe Gemälde, denen die Kirchenväter zu Recht mit Feigenblättern zu Leibe rücken mußten.
Natürlich sehnen wir alle uns nach den friedlichen Zeiten vor dem Fernsehen zurück, als die Familienausflüge noch ins Stadtzentrum führten, wo Auspeitschungen, Galgen, Guillotine, Pranger, Rädern und Vierteilen und der völlig asexuelle Sport des Hexenverbrennens geboten wurden. Damals, als es in Städten und Dörfern keine Diebe, Halsabschneider, Vergewaltiger gab, als die Welt frei war von Kriegen, Massakern und Völkermord. In diese sonnige Zeit kann uns der V-Chip zurückführen, aber warum soll man da haltmachen? Warum beschützt uns der Kongreß nicht mit einem ganzen Alphabet von Chips vor allen sieben Todsünden? Denn schließlich versichern uns doch unermüdlich die Verfechter des V-Chips: Wer keine Sünden sieht, begeht auch keine.
Am meisten freue ich mich auf den S-Chip (gegen Sexualität), denn Senator Bob Dole erklärte neulich in seiner Rede gegen Hollywood völlig zu Recht: Sex auf dem Bildschirm erzeugt Sexualverbrechen im Leben. Wenn wir unsere Kinder einfach vor allen unzüchtigen Filmen bewahren – zuzüglich vor den entsprechenden CDs, MTV, Fotos und Büchern – dann bleiben ihre Gedanken ebenso rein wie die ihrer Eltern. Wie können wir über die steigende Scheidungsrate jammern, wenn „Madame Bovary“ in der höheren Schule gelesen und von Claude Chabrol verfilmt wird? In manchen Colleges mutet man unseren jungen Menschen zu, „Lady Chatterley's Lover“ zu lesen, und 1981 wurde das Machwerk von Just Jaeckin sogar auf die Leinwand gebracht. Warum sind wir überrascht, wenn unsere Kinder keine Autorität mehr respektieren, wenn sie doch „Ödipus Rex“ lesen? Und die „Orestie“ noch dazu? Und Hamlet – der in seinen drei Filmfassungen schon ganze Generationen verdorben hat: 1948 war es Laurence Olivier, 1960 Tony Richardson und 1990 Franco Zeffirelli, der den Hamlet noch dazu mit einem notorischen Symbol der Geilheit besetzte: mit Mel Gibson.
Wir erzählen Kindern die Geschichte von Peter Pan, die nicht nur 1953 als Film unter die Kinder gebracht wurde, sondern auch unvermeidlich als Fernsehspecial mit Mary Martin – und dann wundern wir uns über die Rastlosigkeit und den Hooliganismus der Generation X. Dann gab's da den „Herrn der Fliegen“, Pflichtlektüre in vielen Klassenzimmern und gleich zweimal im Film: 1963 von Peter Brook, 1990 von Harry Hook. Warum stecken wir den Kopf in den Sand und tun so, als merkten wir nicht, was die Kinder aus „Die Schöne und das Biest“ lernen – erst ein Märchen, dann ein Zeichentrickfilm für junge Gemüter in ihrer empfänglichsten Phase, und jetzt sogar eine Broadway-Show.
Mit Gottes Willen wird der V-Chip, im Verbund mit den Kürzungen der Bildungsetats, diesen giftigen Medien den Garaus machen. Denn wenn der Schulunterricht noch schlechter wird, dann werden unsere Kinder – vor allem die armen Kinder, die für Verbrechen besonders prädestiniert sind – vor der Lektüre dieser gefährlichen Texte bewahrt, weil sie gar nicht mehr lesen können. Marcia Pally
Aus dem Amerikanischen von Meinhard Büning
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