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„Shoah“-Compilation im NetzPopup-Fenster samt Zeitzeugen

Claude Lanzmanns epochaler Film „Shoah“ ist ein digitales Quellenreservoir. Es verzweigt sich im Netz und stellt neue Fragen an die Betrachter.

Die tschechische Jüdin Ruth Elias spricht von ihrer schrecklichen Begegnung mit Josef Mengele in Auschwitz. : screenshot ushmm.org

In ausgewählten amerikanischen Kinos und universitären Filmclubs zirkuliert seit Ende des vergangenen Jahres eine 54-minütige Outtake-Kompilation: „Shoah – The Unseen Interviews“. Die darin enthaltenen Sequenzen mit Zeitzeugen-Gesprächen gehören zu jenem rund 220 Drehstunden umfassenden Material, das Claude Lanzmann innerhalb von zwölf Jahren auf langen, oft komplizierten Reisen aufgezeichnet hat.

Dass das Destillat dieser filmischen Recherche, der epochale, 1985 in Paris uraufgeführte Dokumentarfilm „Shoah“, keine erschöpfende Montage dieses Materialbestands ist, sondern eher eine erste große Synthese, deutet sich schon seit einigen Jahren an. In den Resten, die zunächst keinen Eingang in „Shoah“, in die Öffentlichkeit des Kinos fanden, stecken viele weitere, potentiell eigenständige Filme.

Lanzmanns Outtake-Archiv ist ein Quellenreservoir, ein historiographischer Steinbruch, dessen Dimensionen beeindruckend sind. „The Unseen Interviews“ stellt nach „Ein Lebender geht vorbei“ (1997), „Sobibór“ (2001) und „Der Karski-Bericht“ (2010) eine weitere Auskoppelung dar, die „Shoah“ zusätzliche Verzweigungen, andere Perspektiven, neue und weitererzählte individuelle Schicksale hinzufügt.

Im Unterschied zu diesen Filmen handelt es sich bei „The Unseen Interviews“ jedoch nicht im engeren Sinn um eine Regiearbeit Lanzmanns. Die Kompilation ist vielmehr eine Art Teaser, der in erster Linie auf die neue mediale Existenzform und Verfügbarkeit des ursprünglich nicht veröffentlichten Materials verweist.

Lanzmann hatte sich bereits 1993 entschieden, die Outtakes dem neu gegründeten United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) in Washington zu übergeben, das sich, finanziell unterstützt durch Steven Spielberg, früh auf die Archivierung filmisch-fotografischer Zeugnisse der Shoah spezialisierte. Lanzmann wollte schon damals, dass die Outtakes konserviert werden und perspektivisch auch jenseits des Kinos Sichtbarkeit erhalten. Heute bilden sie das Herzstück des weltweit einmaligen Bewegtbildfundus des Museums.

Das Besondere an der damit verbundenen Archivpraxis ist, dass die 16mm-Outtakes mittlerweile komplett digitalisiert sind und seit kurzem in längeren Ausschnitten – in einer frei zugänglichen Online-Datenbank – als Stream angesehen werden können. Die vom Museum hergestellte Kompilation „The Unseen Interviews“ zeigt nur einen Bruchteil des bereits heute im Internet aufrufbaren Materials. Auf der Webseite des USHMM finden sich schon jetzt gut 40 Zeugeninterviews, darunter etliche, die in „Shoah“ nicht vorkommen.

Der adrette Vorgarten

Auf einigen Outtakes ist zu sehen, wie sich Lanzmann im Hotelzimmer auf die klandestin mitgefilmten Gespräche mit deutschen Tätern vorbereitet, indem er sich kleine Tonbandgeräte umschnallt und prüft, ob das Sakko nicht zu auffällig ausbeult. Beim Versuch, mit Gustav Laabs zu sprechen, einem Fahrer der Gaswagen von Chelmno, wird Lanzmann vor dem Mietshaus von zwei Nachbarn zur Rede gestellt, die, angesprochen auf Laabs verbrecherische Vergangenheit, zu Protokoll geben: „Was wir nicht wissen, interessiert uns gar nicht.“

Ähnlich evasiv und selbstentlarvend reagieren auch Täter, die in „Shoah“ mitunter deshalb nicht auftauchen, weil Lanzmann eine gegenüberstellende „Parallelmontage“ aus Opfer- und Täterperspektiven vermeiden wollte. Wie umfangreich er aber gleichwohl auch mit Nazis unterschiedlicher Dienstgrade gesprochen hat – oft unter dem Pseudonym „Dr. Sorel“ – ist nun im Einzelnen nachvollziehbar. Manche empfangen ihn in biederen Nachkriegswohnzimmern und verstricken sich, auch dank energisch aus dem Off zwischenrufender Ehefrauen, schnell in Widersprüche – wie Heinz Schubert, der dem Befehlshaber der „Einsatzgruppe D“, dem SS-Mann Otto Ohlendorf, unmittelbar zuarbeitete.

Andere wimmeln Lanzmann auf perfekt gefegten Reihenhaustreppen ab und geben vor, sich an nichts zu erinnern und schon lange nur noch Interesse für die Pflege hübscher deutscher Vorgärten aufbringen zu können.

Auch Abraham Bomba kommt noch einmal zu Wort, der im Vernichtungslager Treblinka als Friseur arbeiten musste und bereits in „Shoah“ beim prekären „Nachspielen“ seiner Tätigkeit zu sehen war. In den Outtakes berichtet er von seiner Flucht. Etliche weitere, bislang ungehörte Zeugen treten auf: Die tschechische Jüdin Ruth Elias spricht von ihrer schrecklichen Begegnung mit Josef Mengele in Auschwitz. Peter Bergson, der während des Krieges das Komitee „Save the Jewish People of Europe“ mitbegründete, übt zu Lanzmanns Erstaunen äußerst scharfe Kritik nicht nur an der anfänglichen Interventionsskepsis der Roosevelt-Regierung, sondern vor allem am zunächst verhaltenen Engagement der amerikanischen Juden.

Bei der Netzsichtung dieser gestreamten Videos wird deutlich, dass der digitale Medienwandel auch für die Frage nach der Bedeutung filmischer Zeugnisse des Holocaust nicht ohne Folgen bleiben wird. Das betrifft zum einen die memorialkulturelle Funktion des Materials als Medium von Erinnerungspraktiken. Zum anderen stellen sich ältere rezeptionsethische Fragen mit neuer Dringlichkeit.

Wer beispielsweise zu Hause am Computer sitzt und eines der Flash-Videos des USHMM betrachtet, muss damit rechnen, dass plötzlich ein anderes Popup-Fenster aufgeht, weil ein Bekannter glaubt, via Skype ein neues Geheim-Emoticon verbreiten zu müssen. Was nun? Soll man den Zeugen auf Pause stellen? Bookmarken? Darf man ihn wegklicken? Entwertet die zerstreute Rezeption diese Aufzeichnungen nicht, wenn einem die Geschichte, die sie enthalten, nur noch als ein Desktop-Fenster unter anderen entgegentritt?

Eva Braun macht Ferien

Dem Referenzdefizit von Bewegtbildmaterial, das im Netz relativ kontext- und hierarchiefrei zirkuliert, versucht das USHMM durch einen sorgfältigen quellenkritische Apparat zu begegnen. Selbst Lanzmanns eigene Transskripte der Gespräche sind als PDF downloadbar und können parallel mitgelesen werden.

Ähnlich geht das Museum mit seinem weiteren Online-Archiv um, das insgesamt über 1.000 Stunden Filmaufnahmen aus den Jahren 1920 bis 1948 enthält, darunter viele Amateur-Produktionen: von „Eva Braun & family on holiday cruise“ bis zu den verstörend drastischen Aufnahmen befreiter Konzentrationslager. Diese „atrocity films“ existieren aber auch längst schon ohne museumspädagogische Rahmung, sind unvermeidlich Teil der bunten YouTube-Welt. Dort tauchen nach entsprechenden Suchanfragen dann rechts neben dem Videofenster auch bei diesen Filmen erwartungsgemäß Werbebanner für Smartphones und die Spalte „angesagte Videos“ auf.

Die Kulturtheorie streitet sich derweil immer noch über die Ontologie fotografischer Zeugnisse der Shoah, plädiert auf Undarstellbarkeit oder erkennt im Gegenteil ein Sichtbarkeitsgebot. Die jüngste Debattenschleife ging einerseits von Georges Didi-Hubermanns Essay „Bilder trotz allem“ aus, andererseits von dem Versuch, Quentin Tarantinos Geschichtsphantasie „Inglourious Basterds“ einzuordnen, in deren fragwürdigster Szene aus dem Rauch brennenden Filmmaterials das Antlitz einer jüdischen Rächerin figuriert wird.

Die tradierten bildtheoretischen Fragen – Was bedeuten diese Bilder? Wer hat sie wozu gemacht? Welche Betrachterposition ist ihnen immanent? – sind nach wie vor aktuell. Sie stellen sich aber vor der medialen Realität, die insbesondere dem Zeugnismaterial unter den gegenwärtigen Zirkulationsbedingungen zukommt, doch anders. Lanzmanns „Shoah“, immer noch die komplexeste filmische Arbeit zum Thema, eignet sich weiterhin als Ausgangspunkt, weil es sich tatsächlich um ein „offenes Kunstwerk“ handelt, das sich nun im Netz medial entformatiert, verästelt und entlang der Bahnen individueller Rezeptionsentscheidungen weiterschreibt.

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