■ Der italienische Zentralstaat in der Krise: „Sfascismo“ — ein Zungenbrecher mausert sich zum Fachbegriff
Nein, so sehr wir uns auch daran gewöhnt haben, bei italienischen Neuerscheinungen eher an mediterrane Exotik zu denken denn an richtungweisende Entwicklungen: Wir sollten den nun vom Süden heraufkriechenden Neologismus sehr ernst nehmen: „Sfascismo“. Er steht für die Tendenzen der Auflösung (italienisch: „sfascio“) des Nationalstaates, und diese Tendenzen werden sich keineswegs auf das Gebiet zwischen dem Brenner und der Insel Lampedusa beschränken.
Italien setzt ein Zeichen, und was für eines — es ist nicht minder deutlich als jenes vor 132 Jahren, als das Land, umgekehrt, mit der Bildung eines aus vielen Einzelstaaten zusammengeflickten Reichs voranging. Der deutschen Reichsbildung also um mehr als zehn Jahre zuvorkommend.
Tatsächlich sind denn auch die Gründe, die in Italien zum Auseinanderdriften der Regionen führen, auch in nahezu allen anderen (west-)europäischen Staaten vorhanden; nur dauert es bei den meisten etwas länger, bis sie sich dessen bewußt sind. Das regionale Gefälle — in Italien zwischen Nord und Süd, bei uns durchaus vergleichbar zwischen West und Ost — ist inzwischen unüberbrückbar geworden und mit den Mitteln herkömmlicher Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik nicht mehr abzubauen; die Unregierbarkeit riesiger gesellschaftlicher Einheiten angesichts der rasch zunehmenden, oft nicht mehr kalkulierbaren Mobilität ist in Deutschland, Frankreich, England und Spanien nicht weniger klar als in Italien; die Parteien als traditionelle Mittler zwischen dem (Wahl-)Volk und der Administration sind zu reinen Selbstbedienern verkommen und erweisen sich allenthalben als unfähig zur Selbsterneuerung. Die Konditionierung der Politik durch Spekulanten und finstere Finanzgruppen hat dieser Tage weltweit gezeigt, wie man nahezu alle demokratischen Mechanismen aushebeln kann.
Die „Ligen“ Italiens und nun auch die industrienahe Republikanische Partei bieten da eine Alternative: die Rückkehr zu kleineren administrativen und, auf längere Sicht, staatlichen Einheiten. In denen, so die Theorie, könne bürgernäher kontrolliert werden, wer wo was mit den Gemeinschaftsgeldern unternimmt, könne Wirtschaft wie Administration flexibler auf Veränderungen reagieren, die Konditionierung durch Unterweltgruppen eingedämmt werden.
Unklar, ob diese Alternative Sinn macht. Doch sie hat eine Stärke: Bisher vermag niemand eine Alternative zu ihr vorzuweisen. Werner Raith, Rom
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